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Jan Weiler Antonio im Wunderland

Jan Weiler Antonio im Wunderland

Titel: Jan Weiler Antonio im Wunderland
Autoren: Jan Weiler
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Giesecke, wann das denn nun im Fernsehen käme. Er sieht mich mitleidig an. Das sei für ein Unternehmensvideo, sagt er knapp. Er schicke eine Kassette.
    Antonio geht sich umziehen. Es dauert eine ganze Weile, bis er zum Pförtnerhäuschen kommt, wo wir auf ihn warten.
    Diesmal muss er zu Fuß gehen. Niemand fahrt ihn zu seinem Spind und wieder zurück. Als er nach einer kleinen Ewigkeit auftaucht, sind Ärmel und Hosenbeine aus ihren Verstecken gerutscht, was dem Anzug nicht gut tut, zumal es angefangen hat zu regnen. Toni trägt einen goldenen Helm, daraufsteht sein Name und eine 37, Geschenk von den Kollegen, mit denen er noch einen Kleinen Feigling trinken musste.
    Zu Hause zieht er sich rasch um und setzt sich auf seine Hollywoodschaukel. Den Helm behält er den ganzen Tag auf.
    In der Hand hält er das Vorhängeschloss von seinem Spind.
    Hat er mitgehen lassen, es ist ihm mehr wert als die Geschenke von Herrn Köther. Den Anzug bringe ich zum Alt-kleidercontainer. Mein Vater hat mich nie mehr danach gefragt.
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ZWEI
    Ich kann meinen Schwiegervater wirklich gut leiden, aber Antonio ist mitunter sehr anstrengend. Das liegt an der ständigen Vermischung von Herkunft und Zuhause bei ihm.
    Im Gegensatz zu den meisten Menschen ist das bei Antonio nämlich nicht dasselbe. Er stammt aus Campobasso in Molise, einem sehr kleinen und selbst unter Italienern weitgehend unbekannten Bundesland, welches häufig vergessen wird, wenn man die Regionen aufzählt. Es hat insofern Ähnlichkeit mit Kurt Georg Kiesinger, der auch oft vergessen wird, wenn man die deutschen Bundeskanzler 1 rekapituliert.
    Molise ist gewissermaßen die Bandscheibe zwischen den Abruzzen und Apulien. Und die Hauptstadt von Molise ist Campobasso. Es gibt hier ungefähr 50000 Einwohner, eine sehr sehenswerte Altstadt sowie das internationale Museum für Miniaturkrippen. 400 Exemplare gibt es zu bestaunen, sogar eines aus dem Schwarzwald. Wem das zu aufregend ist, der kann sich in ein Café setzen und warten, dass die Amerikaner einmarschieren. Das haben sie vor rund sechzig Jahren schon getan, und wer weiß, vielleicht ergibt es sich ja noch einmal.
    Von dort also ist Antonio weggegangen, das ist jetzt schon über vierzig Jahre her. Eigentlich wollte er damals nach Ame-1 Er war immerhin von 1966 bis 1969 Kanzler. Und im Dritten Reich Mitglied der NSDAP, was naturgemäß das Vergessen fördert. Ach, vergessen wir's.
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    rika, aber er ist dann letztlich bloß bis Krefeld gekommen, genauer gesagt bis nach Kempen, einem Ort am Niederrhein, der Campobasso in einigem ähnlich ist. Es gibt auch hier einen historischen Stadtkern und nicht zu viele Sehenswür-digkeiten. Im Gegensatz zu Campobasso liegt Kempen aber nicht auf einem Berg, ganz im Gegenteil. Der Niederrhein ist so flach, dass man das Kartoffelkraut auseinander biegen muss, wenn man Kempen von der Ferne sehen will.
    Hier hat Antonio sein Häuschen gebaut, seine Kinder zur Schule geschickt und seine Rentenansprüche erworben, also ist dies in vier Jahrzehnten sein Zuhause geworden. Aber Heimat? Das sind wohl die Gedanken, die er sich macht und die man manchmal schlecht versteht, weil er sein Deutsch immer mit Italienisch und Phantasie begriffen würzt, deren Bedeutungen nur ihm bekannt sind. Meistens tragen sie nicht erheblich zum Verständnis bei.
    Die Marcipanes haben kaum Freunde, sie gelten als selt-sam. Aber jeder grüßt sie freundlich, wenn sie in Ermange-lung eines corso 1 über den Buttermarkt laufen, einem kleinen Platz im Herzen von Kempen.
    Es ist ein beständiges Singen und Brummen in Antonios Kopf, fortwährend schaltet er vom Italienisch – in den Deutschmodus um und wieder zurück. Er mag das dunkle Altbier, das sie hier trinken, und Sülze mit Bratkartoffeln.
    Aber vorher – vor jeder warmen Mahlzeit – muss er Nudeln 1 In Italien hat jeder Ort einen corso. Das ist eine Rennstrecke für Spaziergänger. Man zieht sich gut an, setzt einen Hut auf und läuft stundenlang grüßend herum. Über den torso zu laufen ist eine strikte Konvention und wird gern mit dem Kirchgang verbunden. In Deutschland entspricht dieser Verrichtung am ehesten das Laufen durch Fußgänger-zonen am Sonntag, wenn die Geschäfte zuhaben.
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    und dazu moussierenden Rotwein haben. Es drängt ihn danach, sich seine elegante Cordjacke anzuziehen, wenn er das Haus verlässt. Nie vergisst er den passenden Schal dazu und erst recht nicht den Spritzer Duft, anhand dessen ihn Kenner auf vierzig Meter Entfernung
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