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Das weisse Horn

Das weisse Horn

Titel: Das weisse Horn
Autoren: Iwan Antonowitsch Jefremov
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wieder hin
    und lag lange, nicht imstande aufzustehen. Wie ich zu
    meinen Führern gelangte, weiß ich heute nicht mehr, aber
    das ist auch einerlei. Hauptsache ist, daß der Kasten mit
    den Skizzenblättern auf meinem Rücken heil blieb.
    Endlich sahen mich die Führer. Sie trugen mich zum Lager,
    legten mich auf den Rücken und schoben mir einen Quer-
    sack unter den Kopf.
    ,Du scheinst zu sterben, Tschoross', bemerkte der älteste
    Führer.
    Wie Sie sehen, bin ich nicht gestorben, fühlte mich aber
    laiige Zeit hindurch sehr elend. Mattigkeit und verminderte
    Sehkraft hinderten mich am Leben und Arbeiten. Das große
    Cemälde ,See der Berggeister' habe ich erst Jahre später
    gemalt, und dies hier habe ich immer nach und nach ge-

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    macht, seitdem ich wieder auf den Füßen stehe. Wie Sie
    sehen, ist mir die Wahrheit über den See und seine Berg-
    geister teuer zu stehen gekommen."
    Tsdiorossow verstummte. Durch das dichte Gitterwerk des
    großen Fensters sah man das in Dämmerung versunkene
    Tal. Ich war tief beeindruckt von der Erzählung des Künst-
    lers, konnte aber durchaus keine Erklärung für die wunder-
    baren Erscheinungen finden, die das Gemälde festgehalten
    hatte.
    Wir gingen ins Eßzimmer hinüber. Die hell strahlende
    Lampe über dem Tisch vertrieb die unwirklichen Schatten,
    die aus der seltsamen Erzählung erwachsen waren. Ich
    mußte einfach fragen, wo der See der Berggeister lag.
    Vielleicht kam ich durch Zufall einmal in jene Gegend.
    „Aha, hat er es Ihnen angetan?" lächelte Tsdiorossow.
    „Nun, besuchen Sie ihn, wenn Sie sich nicht fürchten.
    Notieren Sie!" — Eilig holte ich Notizbuch und Bleistift aus meiner Mappe. — „Der Ort liegt im Katungebirge, an seinem östlichen Ende.
    Etwa vierzig Kilometer den Argutfluß von der Mündung
    an stromaufwärts fließt ihm rechts das Flüßchen JuneUr zu.
    Diese Stelle ist dadurch kenntlich, daß der Argut hier
    einen Bogen macht und der Juneur auf eine weite ebene
    Wasserfläche mündet. Von dort aus gehen Sie auf dem
    linken Ufer den Argut aufwärts — sagen wir mal, etwa
    sechs Kilometer —, und hier, rechter Hand, zeigt sich eine
    kleine Quelle oder meinetwegen ein Bächlein. Es ist zwar
    klein, aber das Tal dort sehr breit und es schneidet tief
    ins Katungebirge ein. Dieses Tal müssen Sie entlang. Die
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    Gegend ist trocken und mit großen, weitausladenden Lär-
    chen bewachsen. Wenn Sie schon ziemlich hoch sind, kom-
    men Sie an eine steile Stelle, ein kleiner Wasserfall stürzt
    herab, und das Tal biegt nach rechts ab. Die Talsohle ist
    flach und breit. Hintereinander liegen da fünf Seen, einen
    halben bis einen Kilometer voneinander entfernt. Der
    letzte, fünfte See, hinter dem es nicht weiter geht, ist der
    See der Berggeister. Das ist allesl Nur passen Sie auf, daß
    Sie sich in den Schluchten nicht irren, denn da sind eine
    Menge Täler und Seen. Doch da fällt mir eben ein, dort
    gibt's ein gutes Merkmal! An der Mündung des Bächleins,
    zu dem Sie vom Argut aus einbiegen, ist ein kleiner
    Sumpf. An seinem linken Rand stand eine riesige, trockene
    Lärche mit doppeltem Wipfel, die wie eine Teufelsgabel
    aussah. Wenn sie noch dort steht, erkennen Sie daran die
    Stelle!"
    Ich notierte mir diese Hinweise, ohne zu ahnen, welche
    Bedeutung sie später für mich haben sollten. Am folgenden
    Morgen sah ich mir Tschorossows Arbeiten an, aber keine
    einzige war mit dem „See der Berggeister" zu vergleichen.
    Ich kaufte zwei Skizzen von Schneebergen, und der Künst-
    ler schenkte mir noch eine kleine Federzeichnung. Zum
    Abschied sagte er:
    „Ich sehe, wie Sie immer wieder den ,See der Berggeister'
    betrachten, aber dies Bild kann ich Ihnen nicht geben. Ich
    werde Ihnen eine Skizze schenken, die ich am See gemacht
    habe, nur" — er schwieg einen Augenblick — „erst später,
    wenn ich tot bin; jetzt fällt es mir schwer, mich davon zu
    trennen. Aber nehmen Sie sich das nicht zu Herzen, es
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    wird bald soweit sein. Man wird sie Ihnen schicken, be-
    stimmt!" schloß der Künstler mit seiner verblüffenden
    Leidenschaftslosigkeit.
    Ich wünschte Tschorossow ein langes Leben und mir ein
    baldiges Wiedersehen mit ihm. Dann bestieg ich mein
    Pferd und sah den Künstler zum letzten Mal, — aber das
    wußte ich damals noch nicht.
    Ich kam nicht so bald wieder ins Altaigebirge. Vier Jahre
    vergingen in angespannter Arbeit, und im fünften warf
    mich ein schwerer Rheumatismus, die Berufskrankheit der
    Taiga-Forscher, für ein halbes
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