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Das weisse Horn

Das weisse Horn

Titel: Das weisse Horn
Autoren: Iwan Antonowitsch Jefremov
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vorgeschriebenen Weg durch das Hochgebirge

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    zurückgelegt hatten, stiegen wir wieder in das Katun-Tal
    und dann in die Uimonisdie Steppe hinab, einen flachen
    Talkessel, der gutes Futter für die Pferde bot. Am Ondugai
    angelangt, schickte ich meinen Gehilfen mit den Samm-
    lungen und der Ausrüstung nadi Bisk. Die Asbestvorkom-
    men bei Tschemal konnte ich ohne Gepäck aufsuchen. Auf
    frischen Pferden erreichte ich zusammen mit dem Führer
    schnell den Katunfluß und machte in der Siedlung Kajan-
    tscha Rast.
    Der Tee mit dem duftenden Honig schmeckte besonders
    gut, und wir saßen lange im Gärtchen an einem weißen,
    glattgehobelten Tisch. Mein Führer, ein etwas mürrischer,
    schweigsamer Oirote*, sog ab und zu an seiner kupfer-
    besdilagenen Pfeife, Ich fragte unseren Gastgeber nach
    allem Bemerkenswerten auf dem weiten Wege nach Tsche-
    mal aus, und der junge Lehrer mit dem offenen sonnen-
    gebräunten Gesicht gab mir bereitwillig Auskunft.
    „Noch etwas, Genosse Ingenieur", sagte er. „Nicht weit vor
    Tschemal kommen Sie durch ein Dörfchen. Dort wohnt
    unser berühmter Künstler Tschorossow, sicherlich haben
    Sie von ihm gehört. Ein unfreundlicher Alter, aber wenn
    Sie ihm gefallen sollten, zeigt er Ihnen alles Schöne. Bilder
    hat er eine Unmenge!"
    Ich erinnerte mich an die Bilder von Tschorossow, die ich
    in Tomsk und in Bisk gesehen hatte, besonders an die
    „Krone des Katun" und den „Khan-Altai". Die zahlreichen Arbeiten Tschorossows in seinem Atelier zu betrachten,
    * Die Oiroten sind eine türkische Völkerschaft, die in dem Oirotisdien Autonomen Gebiet lebt.

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    vielleicht irgendeine Skizze zu erwerben, wäre keine
    schlechte Krönung meiner Bekanntschaft mit dem Altai
    gewesen.
    Gegen Mittag des folgenden Tages erblickte ich rechts von
    mir ein tiefes, breites Tal. Einige neue, leuchtende Holz-
    häuser standen am Abhang unter Lärchenbäumen. Alles
    entsprach genau der Beschreibung des Lehrers von Kajan-
    tscha, und ich lenkte zuversichtlich mein Pferd zum Haus
    des Künstlers Tschorossow.
    Ich hatte erwartet, einen mürrischen Greis zu sehen, und
    war erstaunt, als auf der Vortreppe ein beweglicher, hage-
    rer Mann mit glattrasiertem Gesicht und schnellen, be-
    stimmten Bewegungen erschien. Erst als ich sein gelbliches
    mongolisches Gesicht aufmerksam betrachtete, bemerkte ich,
    daß die borstig emporstehenden Haare und der struppige
    Schnurrbart stark ergraut waren. Scharfe Runzeln zogen
    sich über seine eingefallenen Wangen und die gewölbte
    hohe Stirn, Ich wurde liebenswürdig, aber nicht gerade
    herzlich empfangen und trat etwas verwirrt ins Haus.
    Wahrscheinlich hatte Tschorossow bemerkt, wie aufrichtig
    entzückt ich von der Schönheit des Altai war, denn er
    wurde jetzt freundlicher.
    Das Atelier, ein geräumiges, untapeziertes Zimmer mit
    großen Fenstern, nahm das halbe Haus ein. Aus der großen
    Menge der Skizzen und kleinen Gemälde hob sich eins
    besonders hervor, das mich sofort anzog. Wie Tschorossow
    mir erklärte, war es seine eigene Kopie des „Deny-Der",
    des „Sees der Berggeister", dessen Original sich in irgend-
    einem Museum Sibiriens befindet.
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    Ich besdireibe dieses kleine Bild so genau, weil es für das
    Verständnis des Folgenden von großer Bedeutung ist. Das
    Bild leuditete im Strahl der Abendsonne in kräftigen
    Farben. Die bläulich-graue Fläche des Sees, der die Mitte
    des Bildes einnahm, atmete Kälte und schweigende Ruhe.
    Im Vordergrund lag auf dem flachen Ufer, wo der grüne
    Grasteppich mit Flecken reinen Schnees untermischt war,
    der Stamm einer Zirbelkiefer. Kleine Eisschollen und große
    graue Steine warfen teils grünliche, teils grau-blaue
    Schatten auf die Oberfläche des Sees. Zwei niedrige, wind-
    zerzauste Zirbelkiefern streckten ihre dichten Zweige wie
    zum Himmel erhobene Arme empor. Im Hintergrund stürz-
    ten steile Schneehänge zerklüfteter Berge in den See.
    Felsige Grate leuchteten in violetten und strohgelben
    Farben. In der Mitte des Bildes senkte eine Gletscherwand
    einen Wall lichtblauen Firns in den See, und über ihm
    — in schrecklicher Höhe — erhob sich eine dreieckige,
    funkelnde Pyramide, um die sich ein Schleier rosiger Wol-
    ken wand. Den linken Rand des durch den Gletscher ge-
    bildeten Tales, eines sogenannten „Troges", bildete ein
    kegelförmiger Berg, der fast ganz in Schnee gehüllt war.
    Der Berg stand auf einem breiten Sockel, dessen steinerne
    Stufen wie eine Riesentreppe zum fernen Ufer des
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