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Das weisse Horn

Das weisse Horn

Titel: Das weisse Horn
Autoren: Iwan Antonowitsch Jefremov
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Sees
    hinabstiegen.
    Das ganze Bild atmete jene Weltabgeschiedenheit und
    kalte, blitzende Reinheit, die mich auf dem Weg über das
    Katungebirge so überwältigt hatte.
    Lange stand ich davor und betrachtete die wahrheits-
    getreue Darstellung der Schneeberge des Altai.

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    „Wo habenSie solch einen See gefunden?" fragte ich. „Gibt
    es ihn überhaupt?"
    „Den See gibt es, und ich muß sagen, er ist in Wirklichkeit
    noch schöner. Mein Verdienst ist es, daß ich das' Wesent-
    liche des Eindrucks richtig wiedergegeben habe", ant-
    wortete Tschorossow. „Dieses Wesentliche zu erfassen,
    kam mich aber teuer zu stehen, übrigens ist dieser See
    nicht so leicht zu finden, obgleich es natürlich möglich ist.
    Aber was wollen Sie dort?"
    „Ganz einfach, nur einmal an diesem wunderbaren Ort
    sein. Wer das gesehen hat, der fürchtet den Tod nicht
    mehr."
    Der Künstler sah mich forschend an.
    „Das haben Sie sehr treffend gesagt: ,Der fürchtet den Tod
    nicht mehr.' Sie wissen wahrscheinlich nicht, was für Sagen
    die Oiroten sich von diesem See erzählen?"
    „Vermutlich sehr spannende, da das Volk dem See einen
    so poetischen Namen gegeben hat."
    Tschorossow schaute nach dem Bild hinüber.
    „Haben Sie nichts Sonderbares bemerkt?"
    „Doch, hier in der linken Ecke, wo der kegelförmige Berg
    steht", antwortete ich. „Aber entschuldigen Sie bitte, hier
    erscheinen mir die Farben ganz unmöglich!"
    „Sehen Sie es noch einmal recht aufmerksam an!"
    Ich betrachtete das Bild von neuem, und so fein war die
    Ausführung der Malerei, daß beim längeren Hinschauen
    immer mehr Einzelheiten aus der Tiefe des Bildes auf-
    tauchten. Am Fuß des kegelförmigen Berges erhob sich
    eine grünlich-weiße Wolke, die ein schwaches Licht aus-

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    strahlte. Sein Widerschein kreuzte sich auf dem Wasser
    mit dem Widerschein des Lichtes, das von den glitzernden
    Schneemassen ausging, und bildete lange senkrechte, röt-
    liche Schatten. Ebensolche, nur noch vollere, fast blutrote
    Streifen wurden in den Spalten zwischen den steilen Fels-
    hängen sichtbar. An den Stellen jedoch, wo die Sonnen-
    strahlen ungebrochen durchdrangen, erhoben sich über den
    Eis- und Steinmassen, gleich riesengroßen menschlichen
    Gestalten, dunkelblau-grüne Rauch- oder Dampfsäulen und
    gaben dieser Landschaft ein unheilverkündendes, phan-
    tastisches Aussehen.
    „Das ist mir unverständlich!" sagte ich und wies dabei auf
    dia bläulich-grünen Säulen.
    „Bemühen Sie sich nicht", lachte Tschorossow. „Sie kennen
    die Natur gut und lieben sie, aber Sie glauben nicht an ihre
    Wunder!"
    „Und wie erklären Sie sich diese roten Feuer in den Felsen,
    diese blaugrünen Säulen, diese leuchtenden Wolken?"
    „Ganz einfach, es sind Berggeister!" antwortete der Künst-
    ler ruhig.
    Ich wandte mich nach ihm um, bemerkte aber nicht das
    leiseste Lächeln auf seinem verschlossenen Gesicht.
    „Ich scherze nicht", fuhr er in demselben Ton fort. „Sie
    glauben, daß der See seinen Namen wegen seiner über-
    irdischen Schönheit erhalten hat? Schön ist er, aber auch
    heimtückisch! Das habe ich selber erfahren müssen. Als ich
    das Bild skizziert hatte, konnte ich nachher kaum meine
    Füße bewegen. Im Jahre 1909 war ich dort, und bis 1913
    war ich ununterbrochen krank."

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    Ich bat den Künstler, von den Sagen zu erzählen, die sich
    an den See knüpfen. Wir setzten uns in die Ecke auf ein
    breites Sofa, von wo aus wir das Gemälde gut sehen
    konnten.
    „Die Schönheit dieser Gegend", begann Tschorossow, „hat
    seit altersher die Menschen angelockt, aber irgendwelche
    unbegreiflichen" Kräfte töteten häufig die Besucher des
    Sees. Diesen verhängnisvollen Einfluß habe ich am eige-
    nen Leibe gespürt. Aber davon später! Es ist interessant,
    daß der See an warmen Sommertagen am schönsten ist,
    aber gerade an solchen Tagen macht sich seine vernichtende
    Kraft am stärksten bemerkbar. Sobald ein Mensch die
    blutroten Feuer in den Felsen oder die blaugrünen, ge-
    spenstischen Säulen sah, begann er unter merkwürdigen
    Empfindungen zu leiden." Die ihn umgebenden Schnee-
    gipfel schienen mit ungeheurer Kraft auf seinen Kopf zu
    drücken. Die Lichtstrahlen tanzten vor den Augen, und er
    wurde zu dem kegelförmigen Berg gezogen, wo die blau-
    grünen Berggeister flimmerten, die um eine grünlich
    leuchtende Wolke tanzten. Sobald aber ein Mensch bis
    zu dieser Stelle vorgedrungen war, verschwand alles, und
    nur die kahlen Felsen standen wie finstere Wächter
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