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Das weisse Horn

Das weisse Horn

Titel: Das weisse Horn
Autoren: Iwan Antonowitsch Jefremov
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Speichel-
    fluß, Erbrechen. Aber Dämpfe? Da sehe ich gleich mal nach.
    Treten Sie bitte näher."
    „Nein, danke, ich habe gar keine Zeit. Sehen Sie doch bitte
    schnell mal nach, lieber Pawel Nikolajewitsch!"
    Der alte Mann ging in sein Arbeitszimmer und kehrte
    wenig später mit einem aufgeschlagenen Buch in den Hän-
    den zurück.
    „Hier, Quecksilberdämpfe: Senkung des Blutdrucks, heftige
    seelische Erregung, beschleunigte, unregelmäßige Atmung
    und schließlich Tod durch Herzlähmung."
    „Das ist ja großartig!" platzte ich heraus.
    „Was ist großartig, solch ein Tod?"
    Ich lachte nur, vergnügt wie ein Lausbub über die Ver-
    blüffung des Doktors, und lief die Treppe hinunter. Jetzt
    wußte ich, daß mein Gedankengang unbedingt richtig war.
    Zu Hause angekommen, rief ich sofort den Chef meiner
    Hauptverwaltung an und teilte ihm mit, daß ich im
    Interesse unserer Arbeit unverzüglich in den Altai reisen
    müßte. Ich bat, mir Krassulin mitzugeben, einen jungen
    Diplomingenieur, dessen kräftige Konstitution und kluger

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    Kopf mir bei meinem immer noch kränklichen Zustand sehr
    zustatten kommen würden.
    Mitte Mai konnte man den Aufstieg zum See schon wagen.
    Um diese Zeit machte ich mich von der Siedlung Inja im
    Tschuisker-Gebirge aus auf den Weg, zusammen mit'Kras-
    sulin und zwei erfahrenen Taiga-Arbeiterh.
    Ich erinnerte mich aller Worte des verstorbenen Künstlers
    über den bevorstehenden Weg, und in meiner Seitentasche
    steckte das alte, zerfetzte Notizbuch mit der von Tscho-
    rossow angegebenen Marschroute.
    Meine kleine Abteilung schlug abends neben einem aus-
    getrockneten Flüßchen am Ausgang des Tals das Zelt auf.
    Angesichts der verdorrten, gabelähnlichen Lärche überkam
    mich große Unruhe. Morgen fiel die Entscheidung! Würde
    sich meine Vermutung bestätigen, oder hatte ich mir noch
    etwas Unglaublicheres ausgedacht als die Oiroten mit
    ihren Berggeistern?
    Auch Krassulin war aufgeregt, als er sich neben mich auf
    den Erdhügel setzte, von dem aus ich die alte Lärche
    betrachtete.
    „Wladimir Jewgenjewitsch", begann er leise, „wissen Sie
    noch? Sie versprachen, von dem Ziel unserer Reise zu er-
    zählen, sobald wir in den Bergen angelangt wären."
    „Ich hoffe, morgen ein großes Vorkommen — ja, viel-
    leicht sogar reines Quecksilber — zu entdecken", ant-
    wortete ich ihm bereitwillig. „Morgen werden wir sehen,
    ob ich mit meinen Vermutungen recht habe oder nicht.
    Sie wissen, daß Quecksilber gewöhnlich nur in geringer
    Konzentration gefunden wird. Bisher ist in der ganzen
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    Welt nur ein einziges großes Vorkommen mit reichem
    Quecksilbergehalt bekannt, das i s t . . . "
    „Almadena in Spanien", fiel Krassulin ein.
    „Ja, schon seit vielen Jahrhunderten versorgt Almadena
    die halbe Welt mit Quecksilber. Einmal hat man dort einen
    winzigen See aus reinem,Quecksilber gefunden. Also, ich
    bin überzeugt, am ,See der Berggeister' etwas Ähnliches
    zu entdecken. Daß hier ganze Felsen durch und durch aus
    Zinnober bestehen, davon bin ich überzeugt. Wenn nur..."
    „Aber Wladimir Jewgenjewitsch! Wenn wir ein solches
    Vorkommen entdecken, so bedeutet das eine Umwälzung
    in der ganzen Quecksilberwirtschaft!"
    „Natürlich, mein Lieber! Quecksilber ist sehr wichtig für
    die Elektrotechnik und die Medizin. Aber jetzt schlafen,
    schlafen! Morgen wollen wir vor Tagesanbruch aufstehen.
    Es scheint, wir werden trübes Wetter haben, und das
    brauchen wir auch."
    ,,Warum kommt es so sehr auf trübes Wetter an?" fragte
    Krassulin.
    „Weil ich nicht euch und mich selbst vergiften will. Mit
    Quecksilberdämpfen ist nicht zu spaßen! Das beweist schon
    der Umstand, daß dieses Vorkommen Hunderte von Jah-
    ren unentdeckt blieb, eben wegen der tödlichen Eigenschaft
    der Quecksilberdämpfe. Morgen werden wir uns mit den
    Geistern des Sees messen und dann wird sich zeigen,
    w e r . . . "
    Rosafarbene Nebelwölkchen umgaben die Berge. Im Tal
    war es dunkel geworden, nur die spitzen Gipfel derSchnee-

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    berge leuchteten noch lange in den für uns nicht mehr sicht-
    baren Sonnenstrahlen, dann erloschen auch sie. Ein asch-
    grauer Schleier verbarg die Berge. Ich saß immer noch
    rauchend am Lagerfeuer, bis ich endlich meine Unruhe
    bezwang und mich schlafen legte.
    An alle Ereignisse des folgenden Tages habe ich sonder-
    barerweise nur abgerissene Erinnerungen.
    Deutlich prägte sich meinem Gedächtnis die ausgedehnte,
    ganz flache Talsohle zwischen dem dritten und vierten See
    ein.
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