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Das wandernde Feuer

Titel: Das wandernde Feuer
Autoren: Guy Gavriel Kay
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der Gott.
    Und der Gott war nach wie vor da. Des Nachts konnte er gelegentlich seine stillschweigende Gegenwart spüren, unermesslich, im Strömen und Rauschen seines Blutes, im gedämpften Donner seines menschlichen Herzens.
    War er nur ein Symbol? Eine Manifestation dessen, was er Jennifer gegenüber geäußert hatte: des vorhandenen Widerstandes gegen die Machenschaften des Entwirkers. Es gab schlimmere Rollen zu spielen, dachte er, als die eines Sinnbildes für Widerstand. Damit fiel ihm im Rahmen zukünftiger Ereignisse eine Aufgabe zu, obwohl etwas in seinem Innern – und in seinem Innern befand sich ein Gott – ihm klarlegte, dass damit nicht alles erfasst war. »Kein Mann soll sein Herr des Sommerbaums, der nicht zweimal geboren wurde«, hatte Jaelle im Heiligtum zu ihm gesagt.
    Er war mehr als ein Symbol. Das Warten, bis er erfuhr, was und wie, schien Bestandteil des ihm abverlangten Preises zu sein.
    Nun waren sie beinahe am Ende angelangt. Sie blieben vor einer riesigen Flusslandschaft stehen: Boote, die mit Staken in Bewegung gesetzt wurden, andere, die an einem überfüllten Anlegeplatz ihre Fracht entluden, am gegenüberliegenden Ufer des Stroms waren Wälder zu sehen, dahinter schneebedeckte Berge. Doch das Bild hing ungünstig, er konnte im Glas die Spiegelbilder von Leuten sehen, die hinter ihnen standen, zwei Studenten, den verschlafenen Museumswächter. Und dann sah Paul am Eingang die verschwommene Spiegelung eines Wolfes.
    Im gleichen Atemzug drehte er sich um und begegnete dem Blick von Galadan.
    Der Wolfsfürst hatte seine wahre Gestalt angenommen, und als er Jennifers Keuchen hörte, wusste er, dass auch sie sich an die narbenbedeckte Eleganz dieses machtvollen Wesens mit dem silbrigen Streifen im dunklen Fell erinnerte.
    Paul packte Jennifers Hand, machte kehrt und eilte zurück durch die Ausstellungsräume. Er blickte über die Schulter: Galadan folgte ihnen, ein höhnisches Lächeln auf dem Gesicht. Er hatte keine Eile.
    Sie bogen um eine Ecke. Paul murmelte ein Stoßgebet, dann drückte er gegen die Querstange an einer Tür, die als NOTAUSGANG gekennzeichnet war. Hinter sich hörte er einen Wachmann rufen, aber keine Alarmglocke ertönte. Sie fanden sich in einem Treppenhaus wieder. Wortlos und mit hallenden Schritten stiegen sie die Stufen hinab. Von hinten hörte Paul wieder die Rufe des Wachmanns, als die Tür sich ein zweites Mal öffnete.
    Zu ebener Erde stieß er eine zweite Tür auf und führte Jennifer hindurch. Sie strauchelte, und er musste sie auffangen.
    »Ich kann nicht mehr so schnell, Paul!«
    Insgeheim fluchte er. Sie waren vom Ausgang so weit entfernt, wie sie nur sein konnten. Die Tür hatte sie in den größten aller Räume der Galerie geführt. Die Dauerausstellung der Plastiken von Henry Moore. Der Stolz des Kunstmuseums von Ontario, jener Saal, welcher der Provinz ihren Platz auf der Landkarte der Kunst sicherte.
    Außerdem war dies, wie es schien, der Raum, in welchem sie sterben würden.
    Er half Jennifer von der Tür weg. Sie kamen an mehreren riesenhaften Darstellungen vorbei, einer Mutter mit Kind, einem Akt, einer abstrakten Figur.
    »Warte hier«, forderte er sie auf und setzte sie auf den breiten Sockel einer der Skulpturen. Niemand sonst hielt sich in diesem Raum auf – nicht vormittags an einem Wochentag im November.
    Nun zeigt er sich, dachte er und drehte sich um. Der Wolfsfürst trat durch dieselbe Tür, die sie benutzt hatten. Zum zweiten Mal standen sie einander gegenüber an einem Ort, wo die Zeit in der Schwebe schien.
    Er hörte Jennifer seinen Namen flüstern. Ohne die Augen von Galadan abzuwenden, hörte er sie mit erschütternd kaltblütiger Stimme sagen: »Es ist zu früh, Paul. Was immer du bist, nun musst du es herausfinden. Gelingt dir das nicht, werde ich dich im Sterben verfluchen.«
    Und noch während sich ob dieser Worte alles um ihn drehte, sah er Galadan einen langen, schlanken Finger auf den roten Striemen an seiner Schläfe legen. »Dies«, bemerkte der Andain, »habe ich mir zu Füßen deines Baums zugezogen.«
    »Du hast Glück«, entgegnete Paul, »dass du noch am Leben bist, um dir überhaupt etwas zuzuziehen.«
    »Mag sein«, räumte der andere ein und lächelte wieder, »allerdings nicht mehr Glück, als du es bis jetzt hattest. Ihr beide.« In seiner Hand lag, obwohl Paul nicht gesehen hatte, wie es dorthin gelangt war, ein Messer. Er kam einige Schritte näher. Niemand, wusste Paul, würde jetzt noch den Raum betreten.
    Und
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