Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das wandernde Feuer

Titel: Das wandernde Feuer
Autoren: Guy Gavriel Kay
Vom Netzwerk:
wurde er ihr einen Augenblick lang an die Brust gelegt. Und als sie zum ersten Mal auf ihren Sohn herabschaute, weinte sie vor Liebe und vor Kummer, den sie für alle Welten empfand, für alle Schlachtfelder, denn er war wunderschön.
    Sie schloss die tränenblinden Augen. Dann sprach sie, einmal nur und feierlich, um dafür zu sorgen, dass es so ausgeführt wurde, um die Gewissheit zu haben, dass es so ausgeführt wurde: »Sein Name lautet Darien. Seine Mutter hat ihn so benannt.« Und mit diesen Worten sank sie in ihre Kissen zurück und reichte Vae ihren Sohn.
    Vae, die ihn entgegennahm, war verblüfft, wie leicht es ihr doch fiel, ein zweites Mal zu lieben. Sie hatte Tränen in den Augen, während sie ihn in den Armen wiegte. Und machte ihren verschwommenen Blick und das flackernde Kerzenlicht verantwortlich für jenen kurzen Moment – länger dauerte es nicht –, als seine tiefblauen Augen plötzlich rot waren.
     
    Es war noch dunkel, als er auf die Straße trat, und es schneite. Schneewehen hatten sich in den Straßen von Paras Derval aufgetürmt, an den Läden und Wohnhäusern. Er kam am wohlbekannten Wirtshausschild des Schwarzen Keilers vorbei. Die Schenke war unbeleuchtet, die Fensterläden geschlossen, und das Schild knarrte im Wind, der dem Morgengrauen vorausgeht. Niemand außer ihm war unterwegs in den weißverhüllten Straßen.
    Er setzte seinen Weg fort, nach Osten bis an den Rand der Stadt und wandte sich dann – obwohl das Vorwärtskommen immer schwerer wurde – nach Norden, den Hang des Palasthügels empor. Im Schloss brannten Lichter, Leuchtfeuer der Wärme inmitten von Wind und wehendem Schnee.
    Paul Schafer empfand tiefe Sehnsucht, sich diesen Feuern zu nähern, sich dort mit Freunden niederzulassen – Loren, Matt, Diarmuid, Coll, selbst mit Aileron, dem grimmigen, bärtigen Großkönig – und zu erfahren, wie es ihnen ergangen war, während er sie Anteil nehmen ließ an der Bürde dessen, was er soeben mit angesehen hatte.
    Er widerstand diesem Drang. Das Kind war Jennifers Faden in diesem Gewirk, und sie hatte zumindest eines verdient: dass er davon absah, ihm die Eigenschaft eines Unsicherheitsfaktors zu nehmen, indem er im ganzen Land verbreitete, dass an diesem Tage Rakoth Maugrim ein Sohn geboren worden war.
    Darien hatte sie ihn benannt, und Paul dachte daran, dass Kim gesagt hatte: Ich kenne seinen Namen. Er schüttelte den Kopf. Dies war eine derart unberechenbare Variable, dass er davon wie betäubt war: Über welche Kräfte würde dieser jüngste Andain verfügen, und wem, oh, wem würde seine Ergebenheit zufallen? Hatte Jennifer an diesem Tag nicht nur einem Gefolgsmann, sondern gar einem Erben der Finsternis das Leben geschenkt?
    Beide Frauen hatten geweint, die, welche ihn geboren hatte, und die, welche ihn großziehen sollte. Beide Frauen, aber nicht dieses Kind, nicht dieses schöne blauäugige Kind, das aus zwei Welten zugleich stammte.
    Konnten die Andain überhaupt weinen? Paul lotete jenen stillen Ort aus, den Ursprung der Macht, die sie hierher geführt hatte, suchte dort nach einer Antwort, war jedoch nicht überrascht, als er sie nicht fand.
    Indem er den letzten wirbelnden Schneehaufen überwand, erreichte er sein Ziel, atmete tief ein, um sich zu entspannen, und zog an der Kette außerhalb des Torbogens.
    Tief im Innern des kuppelförmigen Heiligtums der Mutter hörte er eine Glocke anschlagen, dann herrschte wieder Stille. Lange stand er dort im Dunkeln, ehe die mächtigen Türflügel beiseite schwangen und Kerzenschimmer ein Stück weit in die verschneite Nacht hinausdrang. Er trat zur Seite und vor, um zu sehen und gesehen zu werden.
    »Keinen Schritt weiter!« warnte eine Frauenstimme. »Ich habe ein Messer.«
    Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Dessen bin ich mir sicher«, entgegnete er. »Aber ihr habt auch Augen, hoffe ich, und solltet erkennen, wer ich bin, denn ich bin nicht das erste Mal hier.«
    Sie waren zu zweit, ein junges Mädchen mit der Fackel, und an seiner Seite eine ältere Frau. Dazu kamen andere herbei, brachten weitere Lichter.
    Das Mädchen trat vor und hob die Fackel, um sein Gesicht im Flammenschein hell erleuchten zu lassen.
    »Bei Dana vom Monde!« hauchte die ältere Frau.
    »Ja«, sagte Paul. »Nun beeilt Euch bitte, holt Eure Priesterin. Ich habe wenig Zeit und muss mit ihr sprechen.« Er schickte sich an, den Vorraum zu betreten.
    »Halt!« gebot wieder die ältere Frau. »Es ist ein blutiger Preis, den alle Männer zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher