Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das wandernde Feuer

Titel: Das wandernde Feuer
Autoren: Guy Gavriel Kay
Vom Netzwerk:
mit kleinlauter Stimme. »Um Finns willen. Manchmal ist in mir ein Ozean. Ich glaube, er würde mich ertränken, wenn ich es versuchte.« Sie wandte sich ab, verließ den Raum und machte leise die Tür hinter sich zu.
    Paul betrachtete die Priesterin im Licht der hohen Kerzen und stellte fest, dass er in ihren Augen noch nie zuvor Mitleid entdeckt hatte.
    »Du wirst sie ungestraft davonkommen lassen?« murrte er.
    Jaelle nickte, den Blick immer noch auf die Tür gerichtet, durch die das Mädchen verschwunden war. »Jeden anderen hätte ich getötet, glaube mir.«
    »Aber nicht sie?«
    »Nicht sie.«
    »Warum?«
    Sie wandte sich ihm zu. »Lasse mir dieses eine Geheimnis«, bat sie leise. »Es gibt Rätsel, die besser nicht gelöst werden, Pwyll. Selbst für dich.« Zum ersten Mal hatte sie ihn beim Namen genannt. Ihre Blicke begegneten sich, und diesmal war es Paul, der ihn als erster abwandte. Mit ihrer Geringschätzung konnte er fertig werden, doch ihre Augen vermittelten die Ahnung von einer Macht, älter und tief greifender als jene, mit der er am Baum in Berührung gekommen war.
    Er räusperte sich. »Wir sollten von hier fort sein, wenn der Morgen graut.«
    »Ich weiß«, stimmte Jaelle zu. »Ich werde gleich jemanden aussenden, sie hierher zu holen.«
    »Wenn ich das selbst tun könnte«, sagte er, »würde ich Euch nicht darum bitten. Ich weiß, dass es das Avarlith aufzehren wird.«
    Sie schüttelte den Kopf; das Kerzenlicht ließ ihr Haar schimmern. »Du hast Großes vollbracht, sie ganz allein hierher zu bringen. Der Weber allein weiß, wie du es geschafft hast.«
    »Also, mir ist es jedenfalls nicht klar«, gestand er ein.
    Sie schwiegen. Es war sehr still im Innern des Heiligtums, in ihrem Gemach.
    »Darien«, sagte sie.
    Er holte Luft. »Ich weiß. Fürchtet Ihr Euch?«
    »Ja«, gab sie offen zu. »Und du?«
    »Sehr.«
    Sie überbrückten den teppichbedeckten Zwischenraum zwischen ihnen mit einem Blick, ungeheuer groß war diese Entfernung.
    »Wir sollten jetzt endlich handeln«, drängte er schließlich.
    Sie hob die Hand und zog an einer Schnur in ihrer Nähe. Irgendwo ertönte eine Glocke. Als jemand daraufhin kam, erteilte sie unverzüglich, aber wohlüberlegt ihre Befehle, und es schien kaum Zeit verstrichen zu sein, da kamen die Priesterinnen auch schon mit Jennifer zurück.
    Danach ging alles sehr schnell vonstatten. Sie begaben sich in den Kuppelsaal, und dem Mann wurden die Augen verbunden. Sie verwendete ihr eigenes Blut, was einige der anderen überraschte, dann sandte sie ihre Gedanken nach Gwen Ystrat, fand als erste Audiart, dann die anderen. Sie wurden unterrichtet, gaben ihr Einverständnis zu erkennen, dann machten sie sich gemeinsam auf die Reise in die Tiefe, berührten Dun Maura und fühlten sich allesamt von der Erdwurzel durchdrungen.
    »Lebwohl«, hörte sie ihn sagen, während für sie die Veränderung eintrat, wie es immer der Fall gewesen war – wie es sie schon als dreizehnjähriges Kind gekennzeichnet hatte – und ein Leuchten wie Mondschein ihren Körper durchflutete. Sie lenkte es in die gewünschte Bahn, sprach ein Dankgebet und spann sodann das Avarlith aus, um sie in die Heimat zu schicken.
    Als es vorbei war, war sie zu erschöpft, um etwas anderes zu tun, als zu schlafen.
     
    Dort in dem Haus neben der Rasenfläche, wo das Ta’kiena gesungen worden war, saß Vae am Feuer und hielt ihr neues Kind in den Armen. Die graugekleideten Priesterinnen hatten Milch und Windeln mitgebracht und weitere Geschenke versprochen. Finn hatte bereits eine provisorische Wiege für Darien aufgestellt.
    Sie hatte ihm erlaubt, für kurze Zeit seinen Bruder auf den Arm zu nehmen, und das Herz war ihr aufgegangen beim Anblick des freudigen Glanzes seiner Augen. Vielleicht würde ihn das sogar veranlassen hier zu bleiben, dachte sie: Vielleicht war dieses Ehrfurcht einflößende Geschöpf ja so mächtig, dass es den Ruf bezwingen konnte, den Finn vernommen hatte. Vielleicht.
    Und noch ein Gedanke kam ihr: Was der Vater auch sein mochte, und sie belegte seinen Namen mit einem Fluch, ein Kind lernte lieben durch die Liebe, die es erfuhr, und sie würden ihm alle Liebe geben, derer es bedurfte, sie und Finn und Shahar, sobald er zurückkehrte. Wie konnten sie anders, als ein Kind lieben, das so still und so schön war, mit Augen so blau – blau wie Ginserats Wachtsteine, dachte sie, und dann erinnerte sie sich, dass sie zerbrochen waren.

 
Kapitel 3
     
    Paul, der am anderen Ende der Straße
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher