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Das wandernde Feuer

Titel: Das wandernde Feuer
Autoren: Guy Gavriel Kay
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Ausschau gehalten hatte, pfiff zum Zeichen, dass die Luft rein war. Dave stützte sich auf einen der Pfähle, setzte über den Zaun und fluchte leise, als er knöcheltief im Frühjahrsmatsch versank.
    »Okay«, sagte er. »Jetzt die Mädchen.«
    Kevin half zunächst Jen, dann Kim, auf dem gespannten Drahtseil Fuß zu fassen, damit Dave sie hochheben und auf die andere Seite holen konnte. Sie hatten sich Sorgen gemacht, der Zaun könne elektrisch geladen sein, aber Kevin hatte ihn zuvor überprüft und herausgefunden, dass er es nicht war.
    »Ein Auto!« warnte Paul sie mit erhobener Stimme.
    Sie warfen sich auf den kalten, matschigen Erdboden, bis das Scheinwerferlicht an ihnen vorbei war. Dann stand Kevin auf und sprang ebenfalls über den Zaun. Dieser Teil ihres Unternehmens war einfach, aber weiter drinnen reagierte der Boden auf Druck, wie sie wussten, und im unterirdischen Wachraum würde ein Alarm ausgelöst werden, wenn sie bis dorthin vordrangen.
    Paul kam herbeigelaufen und überwand geschickt den Zaun. Er und Kevin wechselten einen raschen Blick. Trotz der Ungeheuerlichkeit ihres Vorhabens fühlte Kevin grimmige Erheiterung in sich aufsteigen. Es war ein Vergnügen, wieder etwas unternehmen zu können, und ein Täuschungsmanöver, ein Coup von solchem Ausmaß …
    »Also gut«, sagte er, leise und befehlsgewohnt. »Jen, du gehst mit mir. Bereite dich darauf vor, hier die Sexbombe zu spielen. Dave und Paul – ihr wisst, was ihr zu tun habt?« Sie nickten. Er wandte sich an Kim. »Alles klar, Süße. Leg los. Und … .«
    Er verstummte mitten im Satz. Kim hatte ihre Handschuhe ausgezogen. Der Baelrath an ihrer Rechten schimmerte – er wirkte wie ein lebendiges Wesen. Kim hob ihn über ihre Köpfe an.
    »Mögen die Mächte der Toten mir dies verzeihen«, betete sie und ließ sich vom Licht vorwärts treiben, vorbei am zerbröckelnden Endstein von Stonehenge.
     
    Eines Nachts, der Frühling hatte kaum begonnen, hatte sie endlich den zweiten Schritt getan. Es hatte so lange gedauert, bis er kam, dass sie angefangen hatte, darüber zu verzweifeln, aber wie konnte man einen Traum zwingen, sich zu zeigen? Ysanne hatte sie das nie gelehrt. Auch das große Geschenk der Seherin hatte ihr dies eine versagt. Träumerin des Traums, das war sie jetzt, aber es war soviel Warten damit verbunden, und nie, niemals hatte man Kim als einen geduldigen Menschen bezeichnen können.
    Wieder und immer wieder während des Sommers nach ihrer Rückkehr und den folgenden Winter hindurch – der noch längst nicht vorbei war, obwohl der April ins Land gekommen war –, immer war das gleiche Bild durch ihre Nächte gehuscht, aber nun erst wusste sie es zu deuten. Sie kannte diesen ersten Schritt auf dem Weg hin zu jenem Krieger seit einer ihrer Nächte in Paras Derval. Die aufgetürmten Steine und der Wind über dem Gras waren ihr so vertraut wie irgend möglich, und sie wusste, wo sie sich befanden.
    Es war die Zeit, die sie verwirrt hatte, sonst wäre das Ganze trotz der verschwommenen Visionen jener ersten Träume, als sie ihre Kräfte soeben erst entdeckt hatte, einfach zu verstehen gewesen: Sie hatte den Ort nicht gesehen, wie er in der Gegenwart war, sondern so, wie er vor dreitausend Jahren ausgesehen hatte.
    Stonehenge. Wo ein König begraben lag, zu seiner Zeit ein Hüne, aber klein, winzig klein gegen den, dessen geheimen Namen er hinter den Mauern des Todes unantastbar verborgen hielt.
    Unantastbar für jedermann, bis letztendlich auf sie. Wie immer empfand sie angesichts des Wesens dieser Macht überwältigenden Kummer: Nicht einmal die Toten durften vor ihr Ruhe haben, so schien es, vor Kimberly Ford mit dem Baelrath am Finger.
    Stonehenge, nun wusste sie es. Der Ausgangspunkt. Das geheime Buch Gortyn hatte sie unter der Hütte am See entdeckt, und darin mühelos, denn Ysanne war in ihr, jene Worte gefunden, die den verstorbenen Hüter veranlassen würden, sich von seinem Lager zu erheben.
    Doch eines hatte sie noch gebraucht, denn der Tote war mächtig gewesen und würde nicht ohne weiteres bereit sein, das Geheimnis preiszugeben: Sie hatte von jenem anderen Ort erfahren müssen, dem nächsten, dem letzten. Dem Ort der Anrufung.
    Und dann, in einer Nacht im April, erfuhr sie ihn.
    Es hätte sie ein zweites Mal in die Irre geführt, dieses langersehnte Bild, wäre sie nicht auf den Streich vorbereitet gewesen, den die Zeit ihr zu spielen versuchte. In ihren Träumen wandelten die Seherinnen durch Verschlingungen, die sich
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