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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben
Autoren: Milena Moser
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Schalen, Fingerschalen aus gehämmertem Silber, die sie von ihrer Großmutter geerbt hatte. Das Menü war rustikal, wie es im Moment angesagt war. Hackfleisch mit Hörnli und Apfelmus, Äplermagronen für die Vegetarier. Keine leichte Kost. In ihrem Alter. Sie würden alle schlecht schlafen heute Nacht. Aber immer noch besser, als ein unangesagtes Gericht auf den Tisch zu stellen.
    Plötzlich sah Erika einen Reigen solcher Einladungen von früher vor ihrem inneren Auge tanzen. Da war der schwere Holztisch in der WG, in dessen Platte im Lauf der Zeit unzählige Initialen, Liebeserklärungen und Parolen geschnitzt worden waren. Damals hatte kein Teller zum anderen gepasst, und das Essen hatte auch einmal aus Spaghetti ohne Sauce bestanden, mit Streuwürze und Butter abgeschmeckt. Sie erinnerte sich an den Ehrgeiz, den sie damals entwickelt hatten, den billigsten gerade noch trinkbaren Rotwein im Supermarkt zu finden. Royal Kabir aus Algerien, dachte sie, ein Franken achtzig die Literflasche mit Kronkorkenverschluss. Dass sie das noch wusste! Sie tranken ihn aus Zahnputzgläsern.
    Heute würde Max sich um den Wein kümmern. Wein war der einzige Luxus, den er sich gönnte. Natürlich sammelte er nicht dieselben teuren Weine wie alle anderen Männer in seinem Alter, sondern achtete auf nachhaltigen Anbau, auf faire Arbeitsbedingungen bei den Winzern. Oft verband er seine Reisen zu den Kollektiven, die seine Stoffe herstellten oder färbten oder bedruckten, mit Besuchen bei innovativen Weinbauern in Südamerika oder Afrika oder sogar in der Karibik.
    Erika hoffte, dass er es rechtzeitig nach Hause schaffen würde. Er hatte schon zweimal angerufen, er stand im Stau. Hätte er doch den Zug genommen! Vier Tage pro Woche blieb er im Glarnerland, wo er sich um die Stofffabrik Keiner kümmerte, aus deren etwas unglücklichem Namen er Kult gemacht hatte. Eigentlich war es Erika, die Keiner hieß. Die die Fabrik geerbt hatte. Aber ihre Mutter hatte von langer Hand vorbereitet, dass der begabte junge Designer, den sie angestellt hatte, als ihr Mann krank wurde, eines Tages den Betrieb übernehmen würde. Das war Erika lange nicht klar gewesen. Sie hatte Max, so hatte sie gedacht, zufällig kennengelernt, bei einem ihrer seltenen Besuche zu Hause. Sie hatten den ganzen Abend lang gestritten, über Politik und soziale Verantwortung: Max war zwölf Jahre älter als sie, er hatte die 68er Bewegung mitgemacht und auch die der Achtziger. Erika arbeitete damals als Model, was Max nicht beeindruckte. Sie unterstütze den Konsumwahn der Gesellschaft, warf er ihr vor, sie verdiene ihr Geld mit etwas, wofür sie nichts könne, mit ihrer Schönheit, die, so Max, «ohnehin relativ» war.
    Â«In einem anderen Kulturkreis würdest du als hässlich gelten, zu groß, zu dünn …» Erika erwiderte nicht, dass sie auch für den eigenen Kulturkreis zu groß und zu dünn gewesen war, als sie mit zwölf plötzlich das ganz Dorf überragte. Sie sagte es nicht, weil ihr Agent ihr verboten hatte, dieses «typische Modelklischee, die Geschichte vom hässlichen Entlein» in Interviews zu erzählen. Stattdessen hatte er mit ihr eine Legende entwickelt. Die Legende von Niita, die aus dem Nichts erschienen war.
    Nach dem Essen war Max mit ihr nach Zürich zurückgefahren, auf seiner klapprigen Vespa durch die kalte Nacht. Die Fahrt hatte mehrere Stunden gedauert, sie hatten sich nichts dabei gedacht. Sie waren jung. Unverwundbar. Als sie in Erikas WG ankamen, zog Max sofort seine Hose aus, um sie seinen gefrorenen Hintern fühlen zu lassen. Aber mit ihr schlafen wollte er nicht. Das irritierte Erika. Normalerweise war sie es, die das Begehren der anderen zurückwies. Männer umschwärmten sie, starrten sie an, versuchten, sie zu beeindrucken, verfolgten sie, standen nachts unter ihrem Fenster und riefen nach ihr. Nicht Max.
    So hatte es begonnen. Mit dieser Unsicherheit. In dieser allerersten Nacht, die schon dem Morgen wich, als Erika ihre Hand über die kalten Hinterbacken nach vorne wandern ließ. Die von Max schroff zurückgeschoben wurde.
    Â«Das geht mir jetzt etwas zu schnell», hatte er gesagt. Das war sonst Erikas Text. Damit hatte es begonnen. Dieses Bemühen, herauszufinden, was Max wollte, was ihm gefiel. Dieses Bemühen, ihm gerecht zu werden.
    Max machte kein Hehl daraus, dass Erika nicht sein Typ war. Er mochte
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