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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben
Autoren: Milena Moser
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kleine, dunkle Frauen mit weiblichen Kurven. Erika war groß und blond und dünn. Max verliebte sich in Frauen, die ein hartes Schicksal tapfer meisterten. Alleinerziehende Mütter, Fabrikarbeiterinnen, Flüchtlinge. Je länger Erika ihm dabei zuschaute, wie er versuchte, andere Frauen zu retten, desto größer wurde ihr Verlangen, selber von ihm gerettet zu werden. Sah er nicht, dass sie ihn brauchte?
    Sie umwarb Max, wie sie selber von Männern umworben worden war. Drei Jahre lang kämpfte sie um ihn. Da sie ohnehin immer weniger Aufträge als Model bekam, schrieb sie sich an der Kunstgewerbeschule ein. Sie fuhr häufiger nach Hause ins Glarnerland, wo Max immer wichtigere Aufgaben in der Stofffabrik ihrer Eltern übernahm. Sie unterstützte seine Bemühungen um umweltfreundliche Herstellung und faire Arbeitsbedingungen. Sie engagierte sich im Umweltschutz, half einer Stiftung, die sich um eingewanderte Frauen bemühte, und unterrichtete Deutsch für Fremdsprachige. Max sah, dass sie sich Mühe gab.
    Als sie schließlich zum ersten Mal miteinander schliefen, waren sie beide betrunken. Erika fühlte sich angekommen. Am nächsten Morgen schaute er sie ernst an und sagte: «Ich bin nicht der Typ Mann, der mit einer Frau schläft und sie dann sitzenlässt.»
    So wurden sie ein Paar. Erika wurde Erika. Manchmal strich er ihr die Haare aus dem Gesicht und sagte: «Ich sehe so viel mehr in dir.» Er sah ihr Potential, ein sinnvolles Leben zu führen. Er glaubte an sie. Auch wenn sie ihn immer wieder enttäuschte. Liebe war kein Thema damals. Es ging um gemeinsame Ziele, den gemeinsamen Weg.
    Max zog in ihre WG ein und pendelte ins Glarnerland. Marylou Keiner war eine kluge Frau, sie ließ Max an einer sehr langen Leine, bezahlte ihm Auslandsaufenthalte und lange Ferien, hörte sich seine Ideen an, setzte sie um, gab ihm das Gefühl, er habe etwas zu sagen in der Stofffabrik, er habe einen Wirkungskreis. Dabei war es immer Marylou gewesen, die die Fabrik geführt hatte. Nicht Erikas Vater, nicht Max.
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    Grüner Salat, dachte Erika. Weiße Sauce. Das Rezept hatte sie auf der Homepage eines urchig-hippen Restaurants gefunden. Die Hauptspeisen hatte ihre Haushälterin vorbereitet. Erika stellte in den Steamer, wärmte auf, überbuk, was ihr Frau Nadolny auf den Zettel geschrieben hatte. Und immer tat Erika so, als habe sie selber gekocht. Sie wusste nicht, ob sie irgendjemanden damit täuschte. Dabei hatte sie früher gern gekocht. Als alles noch nicht so kompliziert war. Heute galten strenge Regeln selbst für eine ungezwungene Einladung unter Freunden. Man orientierte sich an den Gesellschaftsseiten der New York Times on Sunday und kochte nach, was die Hipster letzte Woche in Brooklyn aufgetischt hatten. Der Trend zur währschaften Schweizerküche allerdings war auf lokalem Mist gewachsen und hielt für Erikas Geschmack schon viel zu lange an. Sie wusste nicht, wie viele Varianten von Vogelheu sie sich noch ausdenken konnte. Sie sehnte sich nach der Zeit zurück, als sie mit dem Aufschneiden von reifen Tomaten und Mozzarellabällchen aus dem Supermarkt schon Begeisterung auslösen konnte. Später folgte der Ruccolasalat mit gehobeltem Parmesan und Balsamico-Essig. Vermutlich hatte es damit begonnen. Dass man über den Essig sprach wie über den Wein: Wo er herkam, in welchen Fässern er gereift war, wo man ihn aufgetrieben und was er gekostet hatte.
    Wenn Erika es recht überlegte, war es immer schon so gewesen. Auf allen Tischen in Zürich wurde das gleiche Menü serviert, bis endlich ein anderes angesagt war. Und immer saßen Leute um den Tisch, die sich ähnlich sahen, ähnliche Frisuren und Schuhe trugen. Im Grunde genommen waren auch die Spaghetti mit Streuwürze eine Art Trend gewesen. Auch damals trugen alle das Gleiche und waren doch stolz auf ihre Einzigartigkeit. Sie waren damals gar nicht freier gewesen, dachte Erika. Die Zwänge hatten einfach anders ausgesehen. Damals durfte nichts etwas kosten – hatten nicht die Bewohner einer legendären Groß-WG einmal Zürichseeschwäne gejagt, gerupft und gebraten? Wenige Jahre später musste plötzlich alles furchtbar teuer sein. Dieselben Gesichter saßen einander plötzlich an Chromstahl- und Glastischen gegenüber und aßen Kaviar und Sushi. Jede zweite Einladung endete damit, dass man den Gastgeber in die Notaufnahme bringen
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