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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben
Autoren: Milena Moser
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musste, weil er sich mit dem Austernmesser verletzt hatte. Und heute ging nichts über Authentizität. Wenigstens auf dem Tisch suchte man das Einfache, Echte, das man im Alltag schmerzlich vermisste. Dafür mussten die Älplermagronen herhalten. Auch wenn keiner der Gäste je auf einer Alp gearbeitet hatte.
    Außer Max. Natürlich.
    Â 
4.
    Suleika kauerte vor dem Kühlschrank. Ihr Kopf mit dem neuerdings rosarot gefärbten, halblangen Haar steckte so tief im Kühlschrank, dass nur ihr ausladender, schwarz verhüllter Hintern zu sehen war.
    Â«Sully, was tust du denn da? Wir haben doch heute Abend Gäste», sagte Erika.
    Suleika richtete sich auf und schlug sich den Kopf an der offenen Kühlschranktür an. Sie hielt eine halbleere Auflaufform in der Hand. «Ups», sagte sie. «Sorry.»
    Suleika war dick. Es gab kein anderes Wort dafür. Kräftig gebaut. Schwere Knochen, stämmig, robust, vollschlank, pummelig? Nein. Sie war dick. Sehr dick.
    Und es schien ihr nicht das Geringste auszumachen. Sie richtete sich auf und drehte sich um. In ihren zeltartigen schwarzen Kleidern wirkte sie noch umfangreicher. Erika fühlte sich beinahe bedroht. Von ihrer eigenen Tochter.
    Sie trat einen Schritt zurück. «Sully, das war doch für heute Abend!»
    Suleika schaute auf die Gratinform, die sie wie ein Baby in der Armbeuge hielt. Mit der anderen Hand hatte sie die Alufolie abgedeckt und in die Kartoffel-Nudel-Käse-Sahne-Masse gegriffen. Mit der bloßen Hand. Weiße Sauce tropfte von ihren Fingern. Ihr Kinn glänzte. Erika zwang sich, nicht wegzuschauen.
    Â«Was für ein Jammer», sagten die Leute. «Sie hat so ein schönes Gesicht!» Immer noch konnte man die hohen Wangenknochen erkennen, die auch Erikas Gesicht formten. Geformt hatten, bevor sie es aufspritzen ließ. Wie in dem Kinderspiel, in dem man Papierpuppenkörper reihum mit anderen Gesichtern kombinieren konnte, hätten Suleikas markante Gesichtsknochen besser auf Erikas dünnen Kinderkörper gepasst. Und deren wattiertes Rundgesicht auf Suleikas massig-weichen Leib.
    Die Schwangerschaft war ungeplant gewesen, aber nicht unwillkommen. Sie zogen in eine Genossenschaftssiedlung, in der ihre Freunde bereits ihre etwas älteren Kinder aufzogen, und Max nahm seine Arbeit in der Fabrik etwas ernster. Nach Suleikas Geburt fing er an, im Glarnerland zu übernachten, erst ein-, zweimal die Woche, bald spielte es sich ein, dass er vier Tage in der Woche dortblieb. Erika war eine alleinerziehende Mutter gewesen, nur ohne deren Schwierigkeiten. Sie war verheiratet, sie hatte Geld. Niemand bemitleidete sie, niemand bot ihr Hilfe an. Sie arbeitete ja nicht einmal. Damals waren Frauen über dreißig nicht mehr gefragt. Heute war das anders. Heute hätte sie, als Fünfzigjährige, die Chance, wieder als Model zu arbeiten – wenn sie ihr Gesicht nicht zerstört hätte. In ihrem Bemühen, den Alterungsprozess aufzuhalten, hatte sie das Gegenteil erreicht.
    Suleika war ein kränkliches Kind gewesen. Klein für ihr Alter. Zwei Jahre lang war sie gar nicht gewachsen, Erika hatte sie von Arzt zu Arzt, von Spezialist zu Naturheiler geschleppt. Suleika hatte immer einen empfindlichen Magen gehabt, schon als Säugling hatte sie die Milch in hohem Bogen wieder ausgespuckt. Ihre Dreimonatskolik hatte drei Jahre gedauert. Drei Jahre lang hatte sie geschrien, ununterbrochen, so schien es Erika. Geschrien und nicht geschlafen. Ihr erstes Wort war nicht «Mama» gewesen, sondern «Bauchweh». Erika hatte irgendwann aufgegeben und Suleika essen lassen, was sie wollte.
    Â«Sie weiß es selber am besten, ihr Körper sagt ihr schon, was er braucht», hatte eine Kinesiologin geurteilt. Suleikas Körper brauchte offenbar nur weiße Nahrung. Doch der Eintritt ins Gymnasium mit knapp zwölf Jahren hatte alles verändert. Suleika kam über Mittag nicht mehr nach Hause, sie aß mit ihren Freundinnen, von denen sie immer viele gehabt hatte, sie ernährte sich von Süßigkeiten, von Fastfood, von Backwaren. Und sie nahm zu. Erst langsam, dann explosionsartig. Erst hatte Erika sich gefreut über den Appetit ihrer Tochter, den sie für gesund hielt – aber was verstand sie davon, sie hielt Diät, seit sie sechzehn war.
    Erika war ihre Tochter peinlich. Sie schämte sich für dieses Gefühl, aber es war da. Ihre Tochter machte all ihre Anstrengungen
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