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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben
Autoren: Milena Moser
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noch gefragt.
    Suleika zuckte mit den Schultern. «Was sollte ich sonst denken? Es erklärte alles. Warum du so oft mit mir beim Arzt warst, warum wir immer den Arzt wechselten.»
    Vor zwei Jahren hatte Suleika sich zum ersten Mal geweigert, zu einem neuen Arzt zu gehen. Vor zwei Jahren hatte sie angefangen zu essen, systematisch eine Schicht nach der anderen um sich zu legen. Zwischen sie. Wem nützte die Wahrheit.
    Â«Suleika, es tut mir so leid, du machst dir keine Vorstellung.»
    Â«Schon gut. Wir müssen ja nicht ewig darüber reden.» Suleika schaute sich um. «Wo ist eigentlich dieser Doktor, der hat versprochen, uns nach Hause zu fahren?»
    Â«Lukas?»
    Â«Doktor Lukas für dich», sagte er. Erika schaute auf, und da stand er vor ihnen. «Ihr nehmt es ja mit dem Rauchverbot nicht besonders genau.»
    Â«Können wir jetzt endlich gehen?» Zum dritten Mal stand Suleika auf. Sie hängte sich ihre Tasche um und schlurfte auf ihren Flipflops voraus. Sie drehte sich nicht nach ihnen um. Erika sah Lukas an, der seinen Arm um sie gelegt hatte, als hätte er das immer schon getan.
    Â«Gib’s zu, du hast keine Ahnung mehr, wie ich mit Vornamen heiße», sagte er.

Nevada
    Nevada konnte nicht mehr. Es war zu schwer. Es hatte keinen Sinn. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich bemüht, dem Plan ihrer Mutter gerecht zu werden. Wenn die erste Nevada, Sierras Zwillingsschwester, nicht bei der Geburt gestorben wäre, wäre sie gar nicht erst gezeugt worden. Zehn Jahre lang hatte ihre Mutter eine unglückliche Ehe ertragen in der Hoffnung, ihr totgeborenes Kind ersetzen zu können. Und dann war sie gekommen, Nevada zwei, die schlechte Kopie, der Abklatsch. Ihre Mutter musste gleich gemerkt haben, dass es ein Fehler war. Dass sie ihre Tochter nicht ersetzen konnte. Die Hoffnung, die sie zehn Jahre lang aufrechterhalten hatte, starb im Augenblick von Nevadas Geburt. Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie das Kind dorthin zurückgeschickt, wo es herkam.
    Mit ihrer Mutter hatte sie sich versöhnt, ihre Schwester war heute ihre beste Freundin. Nur das Gefühl, nicht gut genug zu sein, das war geblieben. Es hatte sie ihr Leben lang begleitet. Es hatte sie angetrieben und beherrscht. Erst die Krankheit hatte es verscheucht. Und in den letzten Wochen mit Dante hatte Nevada es ganz vergessen. Doch jetzt war es wieder da. Es hatte sich ganz in der Nähe versteckt. Als hätte es genau gewusst, dass dieser Waffenstillstand, den Nevada mit sich selber ausgehandelt hatte, nicht anhalten würde. Sie war aus dem Land der Glücklichen nicht vertrieben worden, sie hatte sich selber ausgesperrt. Sie hatte Dante verletzt, als er sie brauchte, und er hatte sie verlassen. Er hatte sie verlassen müssen, um sein eigenes Leben zu retten. Nevada war mit sich allein, und mit diesem alten Bewusstsein, nicht zu genügen. Egal was sie tat. Dieses Gefühl erfüllte sie mit unverminderter Kraft. Als wäre es nie weg gewesen. Es würde sich nie ganz vertreiben lassen, das wusste Nevada jetzt. Was sie nicht wusste war, wie lange sie dieses Gefühl noch aushalten konnte. Nicht viel länger, dachte sie.
    Nevada rollte auf den Balkon hinaus. Hier oben wehte der Wind viel heftiger als auf der Straße unten. Sie rollte zum eisernen Geländer. Der trockene Wind trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie öffnete den Briefumschlag auf ihrem Schoß und nahm den Zeitungsstreifen heraus. C-Power, der Superheld, ließ sich im ersten Bild eine orangefarbene Hummerschere aus dem Kopf entfernen. «Warum tust du das?», fragte eine Stimme aus dem Off. «Steckt nicht deine ganze Kraft im K?»
    Â«Ich tue es für Lucy», sagte C-Power.
    Â«Lucy?»
    Â«Die erste Frau. Und die einzige für mich.»
    Im letzten Bild sah man Nevada, unverkennbar Nevada, mit kurzgeschorenem Haar und einem indischen Schal um den Hals im Rollstuhl sitzen. Hinter der Lehne ragte eine lila Yogamatte hervor. Und in der rechten Bildecke schwebte eine Wolke mit C-Powers Kommentar: «Ganz schön scharf … die älteste Frau der Welt!»
    Nevada weinte. Der Wind griff nach dem Papierstreifen und hob ihn über das Geländer. So könnte man jemanden erschlagen, dachte Nevada. Vor weniger als einer Woche waren sie hier gesessen und hatten mit Eiswürfeln geworfen. Doch an das Glück kann man sich ebenso wenig erinnern wie an den Schmerz.
    Sie zog sich am Geländer hoch,
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