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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben
Autoren: Milena Moser
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zurückhaben. Sie wollte sich über den Tisch beugen und nach ihm greifen und ihn auf ihre Seite zurückziehen. Aber sie konnte ihren Oberkörper nicht mehr aufrichten, er krümmte sich um die Wunde in ihrer Mitte.
    Schnell suchte sie ein anderes Gesprächsthema. Etwas Harmloses. Was hatte sie noch erlebt? «Das Projekt wird weitergeführt», sagte sie. Sie bemühte sich um einen leichten Ton. «Du ahnst nicht, was Sierra sich ausgedacht hat.» Sie erzählte von dem Preisausschreiben und von der Kreuzfahrt, die Frau Rothenbühler gewonnen hatte. Sie schmückte das Angebot, das sie auf dem Schiff erwartete, in den wildesten Farben aus. Sie übertrieb. Sie gestikulierte. Bis Dante lachte.
    Doch die ganze Zeit blutete ihr Herz. Der Schmerz ließ sich mit nichts vergleichen. Sie hatte geglaubt, sie kenne jede Art von Schmerz. Nervenschmerzen, Gelenkschmerzen, Muskelschmerzen. Aber nicht das. Sie konnte sich nicht mehr konzentrieren. Sie konnte nicht mehr lächeln. Sie konnte sich nicht mehr hingeben.
    Â«Was ist mit dir?», hatte Dante immer wieder gefragt. Sie konnte es ihm nicht sagen. Manchmal wünschte sie, sie hätte selber einen Tumor, einen Tumor, der verhinderte, dass sie nachdachte, bevor sie sprach. Doch dann stellte sie sich vor, was sie sagen würde: «Ich will dich nicht verlieren. Und wenn, dann lieber an den Tod als an das Leben, als an eine andere Frau. Stirb doch, ich sterbe schließlich auch!»
    Wer würde so etwas sagen?
    Das war nicht Liebe. So unerbittlich, wie sie früher ihren Körper gezüchtigt hatte, so gnadenlos untersuchte sie jetzt ihren Schmerz. Sie stellte fest, dass die Scham ihn noch größer machte. Die Scham, ihn überhaupt zu empfinden, plusterte ihren Schmerz regelrecht auf. Sie redete sich gut zu, sie nahm sich vor, sich für Dante zu freuen. Glücklich darüber zu sein, dass er den Krebs loswerden, dass er leben würde. Mit wem, das tat nichts zur Sache. Wenn sie wirklich liebte, dann stand sein Wohl über dem ihren. Aber das tat es nicht.
    Sie war wie ein Kind, das zum ersten Mal im Leben eine Tafel Schokolade bekommen hat. Und dem diese Tafel nach dem ersten Bissen schon wieder weggenommen wird. Wie dieses Kind wollte sie sich auf den Boden werfen und brüllen, bis sie blau im Gesicht war.
    Warum – das ist gemein – das ist nicht fair – warum, warum?
    Schließlich stand Dante auf. «Ich muss mich hinlegen», sagte er. Sein Flug ging früh am Morgen. Annabelle würde ihn um fünf Uhr abholen.
    In dieser Nacht schliefen sie zum ersten Mal getrennt. Im selben Bett, voneinander abgewandt, ein Abgrund dazwischen. Nevada starrte mit offenen Augen ins Dunkel, bis ihr die Tränen kamen. Ihre Beine zuckten. Was, wenn sie geheilt werden könnte? Was, wenn plötzlich ein Spezialist in Amerika gefunden wurde, der MS heilen konnte? Würde sie Dante noch lieben, wenn sie gesund wäre und er krank?
    Natürlich würde sie. Aber das war nicht dasselbe. Dante war perfekt und schön und unversehrt. Sie war auch ohne ihre Krankheit beschädigtes Gut. Nevada stellte sich eine Kettensäge vor, die ihre schmerzenden Beine abschnitt. Was blieb von ihr übrig, wenn sie nicht mehr krank war?
    Schließlich stand sie auf. Sie brauchte mehrere Minuten, um sich über die Bettkante zu rollen, ihre Glieder zu sortieren, sich dann am Nachttisch hochzuziehen und in den Rollstuhl fallen zu lassen. Sie hörte, wie Dante den Atem anhielt, zwei- oder dreimal. Er musste wach sein. Aber er sagte nichts, und er half ihr nicht. Das Zimmer, das Bett in diesem Zimmer war vom sichersten Ort der Welt zum kältesten geworden. Nevada trieb den Rollstuhl mit lahmen Händen an, er ruckte und zuckte langsam aus dem Zimmer, in dem sich alle Einsamkeit der Welt konzentriert hatte. Sie rollte in die Küche hinaus und schaltete den Laptop ein, der auf dem niedrigen Fensterbrett stand. Die Theke in der Küche war vom Rollstuhl nicht erreichbar. Nevada hatte sich deshalb angewöhnt, am Fenster zu sitzen. Sie schaute hinaus und über die Siedlung, sie sah auf die andere Seite der Stadt, sie sah die Hügelkette und den blinkenden Sendeturm auf dem Uetliberg. Der Turm tröstete sie mehr als ihr alter Freund, der Mond. Der Mond war einfach da. Der Turm hingegen bemühte sich. Er war unablässig dabei, Kontakt herzustellen.
    Vielleicht sollte Nevada sich auch unablässig bemühen.
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