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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben
Autoren: Milena Moser
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Mädchen haben gelernt, sich zu beruhigen, bevor die Stimmung eskaliert», bestätigte sie. «Mit einfachen Atemübungen zum Beispiel. Ich würde gern weiter mit ihnen arbeiten.»
    Was würde aus Deniz werden, wenn ihre Schwangerschaft sichtbar wurde? Wer passte auf Rebecca auf, wenn sie von der Schule flog? Wer konnte Tugba und Zeynep voneinander unterscheiden? Wer freundete sich mit Lana an? Wer kümmerte sich um Elma? Das Projekt war zu Ende, das Leben ging weiter. Nevada würde die Turnhalle aufschließen und zum Yoga einladen. Jeden Tag. Mehr konnte sie nicht tun.
    Frau Rothenbühler nickte. Dann wandte sie sich an Ted. «Hast du noch etwas zu sagen?»
    Â«Nichts, was ich nicht schon gesagt hätte.»
    Frau Rothenbühler machte es kurz. Sie segnete das Projekt ab. «Es ist meine letzte Amtshandlung», sagte sie. «Ich nehme mir eine Auszeit. Ich muss mich jetzt um Renate kümmern.»
    Wer ist Renate?, wollte Nevada fragen, als es ihr einfiel. Renate war Frau Rothenbühler selber.
    Â«Das finde ich sehr angemessen», sagte Ted. «Ich gratuliere dir zu dieser Entscheidung. Weißt du schon, was du machen wirst?»
    Frau Rothenbühler schaute zu Frau Siebenthaler hinüber. «Wir gehen auf eine Kreuzfahrt. Ich hab eine Reise gewonnen, bei einem Preisausschreiben, stell dir das vor, Ted. Ich hab noch nie etwas gewonnen. Und da fragte ich Silvia, ob sie mitkommt und …»
    Â«Dann hörst du also auch auf?», fragte Ted verwirrt.
    Frau Siebenthaler errötete. «Ich habe seit Jahren kein volles Pensum mehr. Ich betreue nur noch Einzelprojekte. Meine Supervisorin sagt ja schon lange, ich steuere direkt auf ein Burn-out zu. Und jetzt hat Renate diese Reise gewonnen, für zwei Personen, und sie nimmt mich mit. Schaut euch das an, ist das nicht toll?» Sie zog einen Prospekt aus der Tasche. «Eine Reise nur für Frauen. ‹Einmal um die Welt und zu sich selbst›! Da kann man Kurse machen und wellnessen, und es gibt Therapie und …»
    Â«Darf ich das einmal sehen?» Nevada griff nach der Broschüre. Sie kannte dieses Angebot. Diese Prospekte hatten auch in der Gesundheitsoase aufgelegen. Neben dem üblichen Kreuzfahrtprogramm wurden auf der MS Amazonia Workshops aller Art zum Thema Selbsterkenntnis angeboten, im psychologischen, gesundheitlichen und spirituellen Bereich. Neu gab es auch einen Workshop zur Entdeckung der eigenen Sexualität. Nevada hielt den Prospekt mit ausgestrecktem Arm vor sich, so dass sie das Kleingedruckte lesen konnte. Ihre Schwester Sierra war als Geschäftspartnerin aufgeführt.
    Â«Also, wir schicken euch den Bericht an die Schulkommission», schloss Frau Rothenbühler. «Einfach zur Information. Es sollte keine Probleme geben mit meiner Nachfolgerin. Alles in allem war es ja ein Erfolg.»
    War es das? Ted und Nevada wagten nicht, sich anzusehen. Zum Abschied umarmten die beiden Frauen auch Nevada überschwenglich. Dann lud Ted sie noch zu einem Eiskaffee in die Migräne ein. Und dann war auch dieser Tag vorbei. Sie hatte den letzten Tag mit Dante ohne Dante verbracht. Es war möglich. Es ließ sich überleben.
    Â 
5.
    Â«Wie war dein Tag?», fragte Dante am Abend mit der resignierten Höflichkeit eines Ehemanns. Sie hatten Pizza bestellt, die sie aus der Schachtel aßen. Die Stücke wurden kalt zwischen ihnen. Sie hatten beide keinen großen Hunger.
    Nevada riss sich zusammen. «Ich habe Dijanas Mutter kennengelernt», sagte sie. «Sie ist tatsächlich Yogalehrerin. Das Mädchen lügt gar nicht – jedenfalls nicht so oft, wie wir gedacht haben.» Sie stockte. Lügen. Ein heikles Thema.
    Â«Wenn sie bloß keinen Tumor hat», versuchte Dante zu scherzen.
    Nevada begann zu weinen. Es war ihr letzter Abend, und sie weinte. Mitten während des Essens. Dante fasste über den Tisch nach ihrer Hand. «Liebe», sagte er. «Hab keine Angst. Alles wird gut.»
    Da weinte Nevada noch lauter, und Dante zog seine Hand zurück. «Weißt du», sagte er, «ich verstehe dich ja.»
    Tust du nicht, dachte Nevada und zog die Nase hoch.
    Â«Aber», sagte Dante, «aber ich habe selber Angst. Ich kann mich jetzt nicht um dich kümmern. Ich muss mich auf mich konzentrieren.»
    Schon fängt es an, dachte Nevada. Noch bevor der Tumor draußen ist. Ihre Haut brannte dort, wo seine Hand gelegen hatte. Sie wollte seine Berührung
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