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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben
Autoren: Milena Moser
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heute ging er ohne ein Wort ins Badezimmer und schloss die Tür hinter sich. Etwas war kaputtgegangen. Nevada wusste, dass sie es kaputtgemacht hatte. Sie hatte das Ende ihrer Liebe vorausgesehen und herbeiphantasiert. Sie hatte vorweggenommen, dass Dante sie nicht mehr lieben würde, wenn er keinen Tumor mehr hätte, und sie hatte ihn so behandelt, als hätte er sie bereits verraten und verlassen. So lange, bis ihm wirklich nichts mehr anderes übrigblieb, als sich zurückzuziehen. Und jetzt würde er abreisen.
    Nevada wünschte sich die letzten Wochen zurück. Sie würde alles anders machen. Sie würde mit ihm nach Chicago reisen, sie würde alles tun, um ihm die Angst vor dem Eingriff zu nehmen, die Angst vor der Enttäuschung. Sie wäre für ihn da. Sie wollte für ihn da sein! Doch jetzt war es zu spät.
    Dante blieb lange im Bad. Als er herauskam, war er schon fertig angekleidet. Er ging in die Küche, machte sich einen Kaffee, schaute auf die Uhr.
    Â«Also dann», sagte er.
    Â«Also dann.»
    Dante stellte die Tasse ab und ging zu Nevada, blieb hinter ihr stehen, strich ihr über das kurzgeschorene Haar. «Bitte sei noch hier, wenn ich zurückkomme», sagte er.
    Nevada nickte.
    Er ging zur Tür, hob seine Tasche hoch, die seit gestern fertiggepackt bereitstand. Er drehte sich nicht mehr um. Er ging. Er war gegangen.
    Nevada war allein. Sie saß allein in ihrem Rollstuhl am Fenster. Ihre Pyjamahose war nass. Dante hatte nichts gesagt, aber er musste es gesehen haben. Gerochen. Das war das Letzte, was er von ihr wusste: Wie sie in ihrer Pisse saß.

Erika
1.
    Erika saß auf dem Kissen und atmete. Unterdessen wusste sie, dass sie nicht im Sitzen ersticken würde, egal, wie eng ihr Hals wurde. Unbeirrt zählte sie ihre Atemzüge. Eins, zwei, drei … Eine Erinnerung nach der anderen stieg aus ihrer Seele auf und ließ sich nicht wegzählen.
    Sie war ein schlechter Mensch. Sie war eine schlechte Mutter. Da konnte sie lange behaupten, sie habe es nur gut gemeint. Es war nicht zu ändern: Sie hatte ihrer Tochter Schaden zugefügt. Sie war nicht besser als ihre eigene Mutter. Erika verstand sehr gut, warum Marylou getan hatte, was sie getan hatte: Weil es für sie keinen Unterschied gab zwischen ihrer Tochter und ihr selbst. Erika war ein Teil von ihr, über das sie verfügen konnte, wie sie wollte. Sie musste sie genauso wenig fragen, wie sie die Fingernägel ihrer Hand fragte, ob sie sie schneiden dürfe.
    Erika hatte mit ihrer eigenen Tochter genau dasselbe getan. Dasselbe, nur anders.
    Sie saß, und sie atmete. Ihr Oberkörper krümmte sich unmerklich um die Faust, die ihre Eingeweide zusammenpresste. Tränen rannen über ihr Gesicht. Sie wischte sie nicht weg. Sie wusste, dass irgendwann der Gong zweimal schlagen würde. Dann konnte sie aufstehen, sich die Beine vertreten, die Nase putzen.
    Es waren nicht nur die Appetitzügler, die den Anfall ausgelöst hatten. Es waren all die Mittel, die sie Suleika eingeflößt hatte. Zäpfchen zum Schlafen, Hustensirup zum Beruhigen, etwas von ihren eigenen Medikamenten. Als traue sie sich selber nicht zu, ihrem Kind das zu geben, was es brauchte. Es zu beruhigen. In den Schlaf zu wiegen. Zu trösten, zu heilen. Satt zu kriegen. Stattdessen verließ sie sich auf ihre Mittelchen, wie sie es selber immer getan hatte. Die erste Schlaftablette war Erikas Einstiegsdroge gewesen. Dabei hatte sie sie nur genommen, um sich von ihrer eigenen Mutter zu distanzieren, die ihre Schlaflosigkeit zu einer aristokratischen Eigenschaft stilisierte. Diese erste Schlaftablette hatte Erika die Türen zu einem neuen Land geöffnet. Dem Land, in dem jeder Wunsch erfüllt, jedes Leiden abgewendet werden konnte. Das Land, in dem niemand einsam sein musste, traurig oder hungrig. Wie hätte sie ihrer Tochter, die sie mehr liebte als sich selbst, den Zugang zu diesem Land verweigern sollen?
    Den Eintrittspreis für dieses Land hatte sie falsch eingeschätzt. Ihr selber war er gar nicht so hoch vorgekommen. Alle Gefühle, jede sinnliche Wahrnehmung musste am Eingang abgegeben werden. Und wer würde den Schmerz vermissen, die Angst, die verletzende Erkenntnis, allein zu sein? Doch heute begrüßte sie jede Empfindung, die sie auf dem Kissen heimsuchte, wie eine lang vermisste Freundin.
    Es gibt mich noch, dachte sie. Egal, was ich getan habe. Egal, was mir angetan wurde. Ich
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