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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben
Autoren: Milena Moser
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hielt Erika die Schachtel hin. Und ein Feuerzeug. «Stefanie hat es mir geschenkt», sagte sie. «Sie ist gerade bei ihrem Vater in der Stadt. Aber sie will auch ganz in die Siedlung ziehen. Und, Mam, du musst mit ihren Eltern reden. Es tut ihr total leid, was passiert ist.»
    Erika nahm einen tiefen Zug. Sie spürte das Nikotin bis in ihre Zehenspitzen. So leicht war man wieder betäubt. Sie brauchte einen Moment, um zu verstehen, was Suleika gesagt hatte. «Stefanie tut es leid? Was hat sie denn getan?»
    Â«Ach, Mam, ernsthaft?»
    Â«Hat sie dir etwa die Tabletten gegeben?» Hatte Max also doch recht gehabt.
    Â«Mam, komm schon! Sie hat sie mir nicht mit Gewalt aufgedrängt. Eher umgekehrt. Sie nimmt das Zeug schon lange, sie stiehlt es aus der Praxis ihrer Stiefmutter. Wenn man es nicht wirklich braucht, wenn man kein ADS hat, wirkt es nämlich wie ein Aufputschmittel. Drum nehmen es ja alle. Weil man es anders nicht schafft. Was meinst du, wie Stefanie das sonst hinkriegen würde, Schule und Sport und einen Freizeitjob und den Haushalt und immer noch drei kleine Geschwister hüten? Aber eigentlich will sie ja aufhören damit. So ist es passiert. Sie hat in so einer Frauenzeitschrift einen Test gemacht und hatte Stufe Rot beim Burn-out-Alarm. Sie ist fünfzehn, Mam! Fünfzehnjährige haben kein Burn-out. Da hat sie mir das erzählt von den Tabletten, und dass sie damit aufhören will. Aber sie hat Angst, mit Marie darüber zu reden, die ja nicht ihre richtige Mutter ist. Sie hat Angst, dass sie nicht mehr bei ihnen wohnen darf, wenn sie nicht alles auf die Reihe kriegt, wenn sie nicht mehr immer die Kinder hütet und so. Und da hab ich halt gesagt, gib mir das Zeug, ich spül es ins Klo … Und das hab ich natürlich nicht getan. Es ist also nicht ihre Schuld. Aber jetzt traut sie sich gar nicht mehr zurück. Stimmt es, dass Dad gegen das Ärztehaus in der Siedlung klagen will?»
    Â«Nein, das hat er nur so gesagt. Er hat sich halt Sorgen um dich gemacht.»
    Â«Ja. Hm. Jetzt weißt du es. Ich hab Steffi versprochen, dass wir mit ihrer Stiefmutter reden, du und ich zusammen. Ich sag, es war meine Schuld, und du sagst, du verklagst sie nicht. Okay?»
    Â«Okay, machen wir.»
    Â«Und? Gehen wir jetzt endlich?»
    Â«Noch nicht. Gib mir noch eine.»
    Â«Mam! Ich dachte, du seist jetzt total Zen und clean und so.» Suleika legte die Zigarettenschachtel und das Feuerzeug zwischen sie. Erika zündete sich die nächste Zigarette an. Sie spürte, wie der Rauch kreiselnd ihren Kopf ausfüllte. Wo waren die Worte?
    Plötzlich dachte sie wieder an die Fernsehmoderatorin, die in Tränen aufgelöst aus ihrem Fettanzug gestiegen war. So musste sie es machen. Sie musste alles ablegen, was zwischen ihnen stand.
    Â«Suleika», sagte sie. «Ich muss dir auch etwas erzählen. Als du zehn Tage alt warst …»
    Als sie geendet hatte, war die Zigarettenschachtel halb leer.
    Â«Können wir jetzt endlich gehen? Ich habe den anderen gesagt, ich sei vor sechs auf dem Platz.» Suleika nahm ihre Tasche und stand auf. Erika hielt sie am Arm zurück.
    Â«Aber Suleika – willst du nichts dazu sagen, willst du mich nicht fragen?»
    Seufzend setzte Suleika sich wieder hin. Sie schaute auf ihre Füße. «Mam. Ich wusste das doch schon.»
    Â«Wie – hat dein Vater etwas gesagt? Oder deine Großmutter?» Wer hatte noch davon gewusst?
    Â«Nein. Es war in der Schule. Vor zwei Jahren hatten wir so einen Aufklärungstag, wegen dem Rauchen und der Lunge und so. Da stand ein Wohnwagen auf dem Pausenplatz, da konnte man ein Röntgenbild machen. Die sind ganz schön erschrocken, als sie meine Rippen sahen, die sind kreuz und quer zusammengewachsen. Ich musste ganz schnell etwas erfinden. Ein Reitunfall, hab ich gesagt, das Pferd ist auf mich draufgefallen. Ich wollte dich schon fragen, was passiert ist, aber dann hab ich mit Caroline darüber gesprochen, und sie meinte, du musst mich geschlagen haben, als ich ganz klein war. Oder geschüttelt. Oder ich bin vom Wickeltisch gefallen, und du hast dich geschämt und niemandem etwas gesagt. Da wusste ich, dass ich dich nicht danach fragen konnte. Wenn man darüber reden könnte, hättest du ja früher schon etwas gesagt.»
    Â«Du hast die ganze Zeit geglaubt, ich hätte dich mit Absicht misshandelt?» Wem nützt die Wahrheit?, hatte sie sich gestern
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