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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben
Autoren: Milena Moser
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ihrem Gewicht eine Herausforderung. Die Arme hatten neben ihrem Gesicht zu wenig Platz. Ihrem schönen Gesicht. Was für ein Klischee. Das Mädchen schaute sie direkt an, abschätzend, na, was sagst du dazu?
    Nevada sagte nichts. Sie hatte noch nie ein so dickes Mädchen gesehen. Sie wusste nicht genau, was sie mit ihm anfangen konnte.
    Zwischen Elma und Suleika stand klein und zierlich, aber unverrückbar, Stefanie, die Vernünftige, Stefanie, die Vermittlerin. Nevada wünschte sich, sie würde sich entspannen, sie würde ihr die Verantwortung für diese zusammengewürfelte Gruppe überlassen. Stefanies Blick huschte rastlos von einem Mädchen zum anderen.
    Â« Drishti zu den Fingerspitzen», sagte Nevada. «Lenkt euren Blick nach oben!» Widerwillig gehorchte Stefanie und konzentrierte sich wenigstens einen Augenblick lang nur auf sich selbst.
    Â« Virabhadrasana , die Stellung des tapferen Kriegers Virabhadra , der aus dem Schmerz geboren ist, aus dem Kummer des Gottes Vishnu über den Tod seiner Frau, aus seinen vor Trauer ausgerauften Haaren auferstanden …» Nevada wusste nicht genau, was sie da erzählte, der Singsang sollte die Mädchen ablenken, sie noch etwas länger aushalten lassen, noch einen Atemzug oder zwei. Die meisten von ihnen kannten diese Art von Schmerz, der einen die Haare ausraufen, den Kopf gegen die Wand schlagen lässt – den eigenen oder einen anderen. Die Yogastellungen sollten ihnen Werkzeug sein, mit diesem Schmerz umzugehen, mit starken Gefühlen aller Art. So stand es wenigstens in dem Projektbeschrieb, den die Schulleitung entworfen hatte.
    Gewaltprävention bei gefährdeten Jugendlichen. Ein ähnliches Programm wurde seit einigen Jahren in einer anderen Siedlung erfolgreich durchgeführt. Doch dieses Programm richtete sich zum ersten Mal ausschließlich an junge Mädchen.
    Â«Mit Gewalt unter Mädchen haben wir wenig Erfahrung», hatte die Schulpflegerin zugegeben. «Es war ein Fehler, Mädchen ausschließlich als Opfer zu sehen. Gewalt unter Mädchen ist versteckter, selten wird eine offen verprügelt oder abgestochen …»
    Â«Abgestochen?»
    Â«Willkommen in der Realität!»
    Seit Beginn des Sommerprogramms war ein Mädchen ausgestiegen und ein anderes in der Notaufnahme gelandet. Es war fraglich, ob das Projekt fortgesetzt wurde.
    Â«Shit, Sie! Die Fette fällt um!»
    Suleika fiel aus der Stellung, krachte zu Boden, zuckte, mit Schaum vor dem Mund. Nevada starrte. Was hatte sie getan?
    Â«Fuck, Frau, tun Sie was!»

Vier Wochen davor
    Om Chandraka Namah
    Sie setzte sich im Bett auf. Es war dunkel. Sie wusste nicht,
    was sie geweckt hatte. Draußen schien der Mond.
    Er schob sich in das schwarze Viereck ihres Fensters,
    dick und gelb und voll. Das Licht, das in der Nacht scheint,
    dachte sie. Ich grüße den Mond, das Licht,
    das im tiefsten Dunkel der Nacht scheint.

Erika
1.
    Erika hatte einen Traum. Sie stand auf ihrer Dachterrasse am Zürichberg. Zuerst war alles vertraut. Hier stand ein blauer Tisch, dort ging der Blick über den See, die Berge dahinter. Dann verwandelte sich das Bild. Ein Teppich aus vertrockneter Erde legte sich über den Betonboden. Die Hortensienbüsche ließen ihre weißen Köpfe hängen. Sie schlüpften aus ihren schweren Töpfen und rückten vom Geländer der Terrasse ab. Sie scharten sich um Erika, drängten ihre Wurzeln in den trockenen Erdboden. Erika schaute auf ihre Füße, sie waren schmutzig und nackt. Als sie wieder aufschaute, war um sie herum alles verödet. Vertrocknete Stauden reichten ihr bis zur Brust. Manche wuchsen über sie hinaus. Manche waren verbrannt, manche geknickt. Verzweifelt stand sie inmitten dieser Verwüstung, und sie fühlte sich schuldig. Daran, dass diese Pflanzen gestorben waren, diese Erde verbrannt.
    Â«Hab ich es nicht gesagt?», rief Max ihr zu. Sie wandte den Kopf. Da stand ihr Mann. Er stand außerhalb dieses jämmerlichen Feldes, lehnte sich ans Geländer und rauchte eine Zigarre. Sie wollte ihm zurufen, er solle die Zigarre ausmachen, aber was nützte das jetzt noch? Ihr Garten war schon abgebrannt.
    Â«Ich hab dir immer gesagt, hier wächst nichts!», rief Max wieder, und eine bodenlose Verzweiflung erfüllte sie. Sie begann zu weinen. Sie weinte um die verbrannte Erde, um die verdursteten Pflanzen, sie weinte um ihren Dachgarten. Sie weinte
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