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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben
Autoren: Milena Moser
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um ihren Glauben, auf diesem Dach etwas anpflanzen, etwas wachsen lassen zu können. Dabei war das gar nicht möglich! Max hatte es immer gesagt! Oh, hätte sie es doch gar nicht erst versucht! Ihre Verzweiflung wurde so groß, dass sie sich krümmte. Da sah sie aus den Augenwinkeln, zwischen den dürren Ästen hindurch, eine Bewegung auf der anderen Seite. Die Terrassentür wurde aufgeschoben, und ein Mann trat zu ihr. Auch er war barfuß. Er lächelte ihr zu, mehr mit den Augen als mit dem Mund, und sie richtete sich auf.
    Â«Ach! Gott sei Dank!», rief sie laut. Die Erleichterung, die sie bei seinem Anblick empfand, flutete jede einzelne Zelle. Jetzt würde alles gut werden. Alles war gut. «Ach, Gott sei Dank! Da bist du ja!»
    Denn der hier war eigentlich ihr Mann, das wusste sie im Traum. Der, und nicht der andere, der mit der Zigarre, dessen Namen sie schon vergessen hatte, sein Gesicht, seine Form, es gab nur noch diesen Mann, ihren Mann, der ihr barfuß entgegenkam. In der Hand trug er eine Gießkanne.
    Erika lachte noch, als sie aufwachte. Gießkanne, dachte sie, Zigarre, Himmel, ich war wirklich zu lange in Therapie. Freud würde in den Tiefschlaf fallen, wenn er diese Träume hörte. Trotzdem notierte Erika sie gewissenhaft. Sie wusste nicht, wie sie das Gefühl der Erleichterung beschreiben sollte. Sie kannte es nur aus Träumen. Der Mann, der dieses Gefühl in ihr auslöste, sah in jedem Traum anders aus. Aber nie war es Max. Nie ihr Mann.
    Â 
2.
    Â«Du Liebe, Liebe, Liebe, Liebe», flüsterte die Stimme in ihrem Ohr. Weiche Arme hielten sie, es roch nach Rosenblüten und Gewürzen. Dann wurde ihr etwas in die Hand gedrückt, automatisch schlossen sich ihre Finger darum. Eine Frau in einem weißen Kaftan zog sie am Ellbogen zur Seite. Erika stand auf und folgte den anderen zwischen den Stuhlreihen hindurch, ließ sich Richtung Ausgang drängen. Vor der Tür zu den Toiletten blieb sie stehen. Sie öffnete ihre Finger. Auf ihrer Handfläche lagen eine zerdrückte Rosenblüte und ein Bonbon. Sie ließ die Blüte fallen, wickelte das Bonbon aus und steckte es in den Mund. Dann lehnte sie sich an die Wand. Sie fühlte sich nicht anders als vorher. Was hatte sie erwartet?
    Erika suchte mit den Augen die Menge ab, die auf Stühlen oder Sitzkissen saß und wartete. In der Mitte rutschten weitere Menschen auf den Knien zur wartenden Mutter vor, die sie in ihre Arme schließen würde. Erika entdeckte Mona und Susanne, schon ziemlich weit vorn. Zu dritt waren sie nach Winterthur gereist, um sich von Amma umarmen zu lassen. Drei Damen im mittleren Alter. Wobei Susanne die entscheidenden fünfzehn Jahre jünger war. Susanne war eine Zweitfrau – und Erikas Nachbarin. Sie hatte sich ihnen heute früh spontan angeschlossen. Mona und Erika besuchten denselben Yogakurs. Ihr Lehrer hatte sie auf die einmalige Gelegenheit hingewiesen, sich von der spirituellen Führerin aus Indien umarmen zu lassen. «Eine lebensverändernde Erfahrung», hatte er versprochen. Erika und Mona hatten sich mit einem Blick verständigt: Das würden sie sich nicht entgehen lassen! Heimlich hatten wohl beide gehofft, Rashi würde sich ihnen anschließen. Und sie könnten sich von ihm umarmen lassen. Sie hatten den Ausflug sorgfältig geplant, sich dem Anlass entsprechend gekleidet. Erika und Mona waren sogar extra zusammen einkaufen gefahren. Sie hatten sich dünne Sommerpaschminas gekauft und grobe, an Malas erinnernde Halsketten aus Kristallkugeln. Sie waren gerüstet.
    Das Leben konnte kommen. Und sich ändern.
    Seit Wochen wurde Erika dieses Gefühl nicht los, dass ihr Leben sich ändern würde. Ändern musste. Sie hatte seltsame Träume. In einer Nacht fiel sie aus einem offenen Fenster. Panik erfasste sie, bis sie merkte, dass sie nicht nach unten fiel, sondern waagrecht weiterflog. Sie schwebte aus einem Fenster hinaus und in ein anderes hinein. Dort fand sie sich bäuchlings auf einem Fußboden liegend, den sie sofort als ihren erkannte, obwohl sie ihn nie vorher gesehen hatte. Sie stand auf. Der Teppich war rosa, er lag vor einem reich verzierten Prinzessinnenbett mit verschnörkeltem Metallrahmen, an den Wänden hingen Bilder von hübschen Jungen mit gefühlvollen Augen, die sie auch nicht kannte, aber in die sie, das wusste sie, verliebt war. Erika schaute sich im Zimmer um, sie fand
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