Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben
Autoren: Milena Moser
Vom Netzwerk:
einen Plattenspieler aus Plastik, sie fand Vinylschallplatten in Hüllen, sie nahm eine Single heraus. Adriano Celentano, Yuppi du, sie legte sie auf und begann auf dem Teppich wie auf einer rosafarbenen Blumenwiese zu tanzen, barfuß.
    In einem anderen Traum stieß sie im Supermarkt mit ihrem Einkaufswagen an den einer anderen Kundin, und als sie sich entschuldigen wollte, sagte die andere: «Überhaupt kein Problem!» Und sie tauschten die Wagen aus, als ob nichts dabei wäre. Erika schob ihren neuen Wagen zur Kasse, versuchte zu erkennen, was alles darin lag, er war überladen, zuoberst eine Tiefkühlpizza in einer großen quadratischen Schachtel, die immer wieder herabzurutschen drohte. Erika fühlte sich wie ein Kind, das die von der Mutter im Schrank versteckten Weihnachtsgeschenke gefunden hat und nun zu erraten versucht, was darin sein könnte. Als sie zur Kasse kam, wurde die Musik immer lauter. «When the moon hits your eye like a big pizza pie, that’s amore …» Erika tänzelte hinter ihrem Wagen her, und als sie die Pizzaschachtel aufs Band legte, fiel die Kassiererin in den Song ein. «Big pizza pie, that’s amore!» Einen Artikel nach dem anderen fischte Erika aus dem Wagen und legte ihn aufs Band. Lauter Dinge, die sie noch nie gekauft hatte: Fertigmahlzeiten, abgepackte Kuchen mit rosa Zuckerguss, Babynahrung in Glasfläschlein, Kondome, ein pinkfarbener Lippenstift. Mit jedem Gegenstand wurde ihr Glücksgefühl größer, bis es sie schließlich ganz ausfüllte.
    Aus diesen Träumen erwachte sie lächelnd. Dann verstummte die Musik in ihrem Kopf, das Glücksgefühl entwich aus ihr wie Luft aus einem Ballon. Sie war kein Mädchen mit einem Prinzessinnenbett, keine sorglose junge Mutter, die Fertigpizza und Kondome kaufte, sie war … wer? Sie war niemand. Sie war nichts.
    Â«Niit!», hörte sie plötzlich die Kinderstimmen ihrer Erinnerung. «Niiteli, komm, wir spielen Fangis!»
    Erika war ein schüchternes Kind gewesen. Ein Einzelkind. Allein unter Erwachsenen. Ihre Eltern führten eine Stofffabrik, sie wohnten außerhalb des Dorfes in einem kalten Haus mit zu vielen Zimmern und einem großen Park. Erika hatte viel Platz gehabt. Und keine Gesellschaft. Bis zu ihrem ersten Tag im Kindergarten hatte sie nie mit anderen Kindern gespielt. Sie hatte noch nicht einmal andere Kinder gesehen. Und jetzt waren da zwanzig, dreißig von ihnen, die lärmten und lachten und schubsten. Angst überwältigte Erika. Sie versteckte sich in der Puppenecke, saß ganz still zwischen den Puppen, aber die Kindergärtnerin entdeckte sie und zog sie in den Kreis.
    Â«Hier gibt es keine Extrawurst», sagte sie streng. Erika spürte, dass sie anders war als die anderen Kinder. Sie war kleiner. Anders angezogen. Sie sprach anders. Anders war nicht gut, das gab ihr die harte Hand der Kindergärtnerin klar zu verstehen. Keine Extrawurst! Extrawurst war auch nicht gut.
    Später saßen sie im Kreis und nannten der Reihe nach ihre Namen. Alle Kinder begannen mit ihrem Nachnamen. «Brunner, Hansli», sagten sie, «Stucky, Vreneli.» Erika kannte ihren Nachnamen nicht. Und ihren Vornamen hatte sie noch nie ausgesprochen. Sie hatte, laut ihrer Mutter, noch nicht einmal «ich» gesagt. «Nicht ein einziges Mal!» Das betonte ihre Mutter mit einem gewissen Stolz, den Erika sonst nicht hörte. Es war gut, das Wort «ich» nicht aussprechen zu können, begriff sie. Doch jetzt musste sie etwas sagen. Dreißig Kinder schauten sie erwartungsvoll an, einige lachten bereits. Die Kindergärtnerin runzelte die Stirn und drohte wieder mit der Extrawurst. Erika zog den Latz ihrer Schürze über ihr Gesicht und murmelte verzweifelt: «Nichts. Niit.»
    Und so kam es, dass die anderen Kinder sie Niiteli riefen. Später wurde Niita daraus. Später wurde eine gute Geschichte daraus. Wenn sie erzählte, wie sie zu ihrem Spitznamen gekommen war. Als Niita hatte sie in besetzten Häusern gelebt, als Model Karriere gemacht. Niita war eine Kultfigur gewesen. Erst Max hatte sie zu Erika gemacht.
    Â«Und?» Erika fuhr zusammen. Susanne stand plötzlich neben ihr. «Spürst du was?»
    Erika zuckte mit den Schultern.
    Â«Ich auch nicht», sagte Susanne. «Ich hab mir irgendwie mehr erwartet.» Susanne schob mit dem Finger ihre Brille hoch. Sie sah aus wie ein Mädchen. Ungeschminkt.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher