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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben
Autoren: Milena Moser
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Unbeeindruckt. Erika hasste Susanne. Gerade jetzt, in diesem Moment, hätte sie sie erwürgen können. Du Liebe, Liebe, Liebe, Liebe, dachte sie. Ha! Susanne konnte nichts dafür. Sie war nur jung. Sie konnte ihr Leben noch zweimal ändern, wenn sie wollte. Susanne hatte alle Zeit der Welt. Alle Zeit, die Erika fehlte. Die sie verloren hatte. Sie wusste, dass Susanne ihr diese Zeit nicht persönlich gestohlen hatte, aber genau so fühlte es sich an. Sie wandte sich ab. Bevor sie etwas Falsches sagte. Bevor ihr gar die Hand ausrutschte.
    Â«Ich geh kurz aufs Klo, wartest du hier?» Vor der Toilette hatte sich eine Schlange gebildet. Erika tastete nach dem Flachmann in ihrer Handtasche und beschloss, noch zu warten. Sie war keine Alkoholikerin. Sie bestimmte, wann und wie viel sie trank. Sie ließ sich von der Menge weitertreiben, zu den Verkaufsständen in der Eingangshalle. Sie nahm ein Buch in die Hand, drehte es hin und her, schüttelte es. Als keine Antwort herausfiel, legte sie es wieder zurück. Erika wusste nicht, wie sie ihr Leben ändern konnte. Sie hatte keinen Beruf gelernt. Sie war fast fünfzig. In ihren Träumen war sie arm und von allem guten Geschmack verlassen. Sollte sie ihr Geld weggeben? Ihre Designermöbel aus der Jahrhundertmitte? Ihre teuren Kleider? Was würde Max dazu sagen? Max verachtete ihr Geld. Würde Max einen solchen Entschluss würdigen? Würde er sie vielleicht sogar besser mögen? Mit anderen Augen sehen?
    Aber Max kam in ihren Träumen gar nicht vor. Erika dachte an den Mann mit der Gießkanne. Sie versuchte, diese tiefe Erleichterung, die sie bei seinem Anblick verspürt hatte, noch einmal zu spüren. Sie war weg. Mit ihrem Traum verflogen. Max weckte etwas ganz anderes in ihr. Unsicherheit. Atemlosigkeit. Seit fünfundzwanzig Jahren versuchte Erika, Max gerecht zu werden. Jetzt war sie müde. Konnte sie Max verlassen? Wer wäre sie ohne Max?
    Sie war niemand. Sie war nichts.
    Â 
    Am nächsten Stand kaufte sie einen weichen dunkelgrünen Schal. Auch er roch nach Gewürzen. Die Verkäuferin, eine dicke, dunkelhäutige Frau, die einen hässlichen knallfarbenen Faserpelzpullover trug, wickelte ihn in ein Stück Packpapier ein.
    Â«What’s wrong with you?», sprach sie Erika an.
    Erika runzelte die Stirn. Ihre Stirn bewegte sich nicht, aber sie fühlte den Druck zwischen ihren Brauen, wo die gelähmten Muskeln auf Irritation reagierten. Wie konnte man ihr ansehen, wie sich fühlte, wenn sich kein Muskel mehr bewegte?
    Â«Want me to tell you?», fragte die Frau weiter.
    Â«Yes, please!» Da war sie aber gespannt.
    Die dicke Frau nickte. «You live in the wrong house!» , sagte sie. Als ob nichts dabei wäre. Erika öffnete den Mund. Sie wollte etwas sagen. Die Worte überschlugen sich. Blieben ihr im Hals stecken. Wrong house! Wie in ihrem Traum. Wrong house, wrong Einkaufswagen, wrong life! Das war es.
    Etwas landete schwer auf Erikas Brust. Ein Vogel mit eisernen Flügeln. Er krallte sich in ihrem Herzen fest.
    Â«Du bist so verzweifelt», sagte die Frau.
    Erika erschrak. «Sieht man mir das an?»
    Â«Nicht jeder kann das sehen. Nicht deine Freundinnen. Nur ich! Ich bin eben etwas Besonderes.» Die dicke Frau lachte.
    Erika lachte mit. «Und jetzt? Was heißt das? Soll ich umziehen?» Innerhalb weniger Minuten hatte sie die lästige dicke Frau zu ihrer Führerin erkoren. Sollte sie doch die Entscheidungen treffen! Sollte sie Erikas Leben verändern!
    Â«Nicht nur dein Haus ist verkehrt. Dein ganzes Leben ist verkehrt. Das merkst du doch. Du strengst dich viel zu sehr an. Das ist das falsche Leben. Das richtige Leben sollte nicht so anstrengend sein. Hör auf, dir solche Mühe zu geben! Was bringt es?»
    Â«Ja, was?» Atemlos hörte Erika zu.
    Â«Du bist traurig, weil du nicht fliegen kannst. Du gibst dir solche Mühe, aber es geht einfach nicht. Du flatterst und flatterst und bleibst doch immer auf dem Boden kleben.»
    Â«Der eiserne Vogel», krächzte Erika. «Seine Flügel sind so schwer!»
    Wie konnte die dicke Frau das wissen? Konnte sie in ihr Herz sehen?
    Â«Nein, es sind nicht die Flügel – du hast gar keine Flügel. Du bist gar kein Vogel. Darum kannst du auch nicht fliegen!»
    Â«Ich bin kein Vogel? Ich kann gar nicht fliegen?» Erika wollte weinen. Sie wusste nicht, warum sie das so traurig machte.
    Die dicke
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