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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben
Autoren: Milena Moser
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bin immer noch da. Hier sitze ich und atme und zähle. Eins, zwei, drei, vier …
    Unterdessen hatte sie das Zählen ihrer Atemzüge lange genug geübt. Verstohlene Gedanken konnten sich um das Zahlengerüst ranken, ohne dass sie es merkte, ohne dass sie im Zählen abgelenkt wurde. So wickelten sich einzelne Zeilen des Herz-Sutra um ihre Atemzüge. «Form ist Leerheit, und Leerheit ist Form … Und in der Leerheit gibt es … weder Unwissenheit noch ein Ende der Unwissenheit. Weder Alter und Tod noch ein Ende von Alter und Tod. Kein Leiden, keine Ursache des Leidens, kein Ende, keinen Weg, kein Erkennen und auch kein Erreichen, und weil es nichts zu erreichen gibt …»
    Was sie getan hatte, war nur das, ihre Taten, es bestimmte nicht, wer sie war. Erika fühlte etwas in sich, das sie nicht kannte. Etwas Neues machte sich in ihr breit. Es begann an einem kleinen Punkt in ihrer Brust und breitete sich von dort aus. Etwas Kleines, Hartes, Grünes, wie eine getrocknete Erbse, die irgendwo in ihr wohnte, der verschrumpelte Kern ihrer selbst. Erika versuchte, diese Erbse zu lokalisieren, doch sie entzog sich ihrem Bewusstsein, sie schwirrte in ihrem Brustraum herum wie eine Flipperkugel. Erika konnte es nicht festhalten. Doch etwas war da, unbestreitbar. Etwas, das von allem unberührt war. Unbeeindruckt von ihren Taten, unbeschädigt von ihren Gedanken. Erikas Atem wurde ruhiger, die Tränen stärker, sie flossen aus ihr heraus wie Wasser aus einem Hahn. Erst schmutzig, dunkel, trüb, dann immer heller, immer klarer.
    Plötzlich fiel ihr ein Satz ein, den sie vor langer Zeit irgendwo gelesen hatte. Sie hatte ihn auf eine Karte geschrieben und über ihrem Spiegel befestigt, eine kühne Feststellung, eine trotzige Behauptung. «Mitten im Winter habe ich in mir einen unbezwingbaren Sommer entdeckt.»
    Unbezwingbar. Das Wort hatte ihr vor allem gefallen. Die Vorstellung, dass es etwas gab, das nicht zu töten, vom Leben nicht kleinzukriegen war. Und mehr noch, dass man so etwas in sich tragen konnte, ohne es zu wissen. Sie hatte diesen Satz immer geliebt, aber sich nie wirklich vorstellen können, wie sich das anfühlen würde: diesen Sommer in sich zu finden. Diese Erbse. Jetzt wusste sie es.
    Der Gong schlug zweimal. Dreißig Minuten waren vergangen. Ein neues Leben hatte begonnen. Erika stand auf und verbeugte sich. Dann setzte sie einen Fuß vor den anderen, und jeder ihrer Schritte war der allererste.
    Als sie aus dem Zendo trat, war sie eine andere. Sie war sie selbst. Sie wusste endlich, wer sie war: Sie war Erika. Sie war eine Erbse. Das Morgenlicht fiel ihr gleißend in die Augen. Das vertrocknete Gras leuchtete, die rotbraunen Mauern schillerten. Sie setzte ihre Sonnenbrille auf. Sie wollte auf die Knie fallen und das vertrocknete Gras neben dem Kiesweg küssen. Der Anblick einer verblühenden Heckenrose trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie hatte sich noch nie so lebendig gefühlt. Jetzt gehörte sie endlich auch dazu. Sie war Teil von allem. Von ihrer Nachbarschaft, vom Kiesweg, von der Rosenhecke. Sie lebte. Sie war da. Und sie war nicht allein. Überall meinte sie, die grünen Kerne zu sehen, in jedem Menschen, der ihr entgegenkam, auf Brusthöhe leuchtend. Es war, als ob sie sich gefunden hatte, um sich endlich vergessen zu können. Um sich den anderen zuwenden zu können. Sie wollte jeden einzelnen Menschen, der ihr entgegenkam, umarmen. Doch zuerst kam ihre Tochter. Suleika.
    Egal was Erika in den letzten fünfzig Jahren falsch gemacht hatte, sie konnte es jetzt und heute besser machen. Sie konnte von heute an eine gute Mutter sein. Und sie wusste jetzt auch, wie sie anfangen würde. Sie sah auf die Uhr. Sie würde die S-Bahn nehmen, die ihren Schrecken verloren hatte und die sie schneller in die Stadt brachte als ein Taxi.
    Beinahe wäre der Rollstuhl in sie hineingefahren. Erika blieb stehen.
    Â«Nevada!» Das hatte sie ganz vergessen. «Ich wollte nur sagen, was mein Exmann auch behaupten mag, von wegen Verklagen und Stadtpräsidentin und so, vergiss es. Es ist nicht deine Schuld.»
    Nevada starrte sie nur an.
    Â«Ich bin Suleikas Mutter», erklärte Erika. Die Yogalehrerin schien ihr etwas verwirrt. Erika fühlte ihre Verunsicherung, als sei es ihre eigene. Und sie fragte sich, wie lange sie diese extreme Form des Mitgefühls aushalten konnte. «Suleika geht es schon viel besser. Ich hole
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