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Das Versprechen des Architekten

Das Versprechen des Architekten

Titel: Das Versprechen des Architekten
Autoren: Wilhelm Braumüller <Wien>
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fest, dass ich meinen Straßenbahnausweis nicht bei mir hatte. Konnte ich ja auch nicht, es kam nämlich gleich ein Bild in mir hoch: Er liegt im Zimmer auf dem Tisch, auf dem aus dem Regal geholten 2. Teil von „Kočís Konversationslexikon“. Aber warum ich ihn dort hingelegt und liegen gelassen hatte, das verstand ich jetzt überhaupt nicht. Ich ging auf einen Tabakkiosk zu, um mir einen Fahrschein zu kaufen. Doch der Kiosk war geschlossen und auf ihm ein Zettel „Diese Verkaufsstelle ist zu verkaufen“. Aber da war mir bereits bewusst, dass auch ich nicht gerade in Zeit schwamm und schon bald meine zweite Vertretung angesagt war. Um halb zwölf sollte mich der Vorarbeiter der Arbeiter erwarten, die in Brünn Kollektoren, das heißt die Stollen für Kollektoren, bohren oder vielmehr minieren. Ich sprang in die nächste Tram, und natürlich tauchten gleich bei der nächsten Haltestelle zwei Kontrolleure dort auf und schritten mit unfehlbarer Sicherheit geradewegs auf mich zu, als würde sie irgendein lausbübischer Gott des Malheurs an der Leine führen. Ich zeigte ihnen den Rundfunkausweis und erzählte, dass ich mit ihnen gerne ein Gespräch über die Arbeit der Brünner Kontrolleure machen würde. Warum nicht, grinsten sie, aber zuerst dieStrafe. Aber dann gibt’s kein Interview mehr fürs Brünner Radio. Das können Sie sich an den Hut stecken, schlug einer von ihnen vor. Ich begriff, dass das halt harte Typen waren, die nicht einmal der wortgewaltige Johannes Chrysostomos hätte umstimmen können, und erinnerte mich an die schreckliche Story eines gesetzestreuen und friedfertigen Bürgers, der eine Geldstrafe nicht augenblicklich bezahlt hatte, und dann wuchs diese Strafe plötzlich an in astronomische Höhen, bis am Ende die Gerichtsvollzieher aufmarschierten, und der gottesfürchtige Bürger, der ob seiner Liebenswürdigkeit und seines sogar für Obdachlose offenen Herzens weit und breit berühmt war, erhängte sich gleich nach der Pfändung auf dem Dachboden. Und da hatte er angeblich noch Glück gehabt, dass sie ihm wenigstens das Stück Seil gelassen hatten. Ich blechte einen Tausender. Also sehen Sie, Herr Redakteur, so weh getan hat das auch wieder nicht. Verpiss dich, du Kontrolleurarsch!, brüllte ich (im Geiste).
    Mit dem Vorarbeiter der Bohrer beziehungsweise Mineure war ich in der Potrefená husa, Teil einer Restaurantkette, verabredet. Was ursprünglich das berühmte Café-Restaurant Bellevue gewesen ist, in dem eine noch berühmtere Szene aus Kunderas Erzählung „Ich trauriger Gott“ spielt. Leider existiert kein Denkmalgesetz, das die Namen berühmter städtischer Objekte schützen würde.
    Als ich vom Freiheitsplatz in die Běhounská ging, erinnerte ich mich gleich daran, was mir die Fraccaroli von ihrem Vater mit dem hässlichen Eigen-, aber dafür unvergesslichen Decknamen Láska, Liebe, erzählt hatte. An derStraßenecke gibt es nämlich immer noch jenen Polizeiposten, aus dem im Kommunismus – stelle ich mir vor – die Bullen wie wilde afrikanische Bienen ausgeschwärmt sind. Jetzt steckt dort von Zeit zu Zeit irgendein Polizist seine blasierte Nase heraus, aber nach einer Weile versteckt er sie wieder vorsichtig.
    Doch da war ich schon fast mit jemandem zusammengestoßen, der mir augenblicklich bekannt vorkam. Ich brauchte dennoch einen Augenblick, bevor mir aufging, dass ich ihn ja vom Rundfunk kannte. In den Neunzigerjahren war er in der Literaturredaktion angestellt, als ich jedoch dort anfing, gerade im Weggehen. Der Schriftsteller Jiří Kratochvil. Fuck, ist der aber alt geworden! Sein Kopf war schon ganz weiß, wie Kalk, und ich bemerkte, dass er hinkte an einem Bein. Im Moment war ich mir nicht sicher, ob er schon damals gehinkt hatte, im Rundfunk, und ob das Hinken sein, um es so auszudrücken, Epitheton constans war. Aber da hatte er mich leider auch schon erkannt.
    Er murmelte was, nickte und begann vor mir zurückzuweichen. Damit verwirrte er mich so, dass ich stehen blieb. Augenblicklich zuckte er wütend mit der Hand, ich solle ihm folgen. Ich machte ein paar Schritte, dem zurückweichenden Kraťas dicht auf den Fersen, der mich einwinkte wie einen an eine Engstelle heranfahrenden Lkw. Bis er stehen blieb und den Kopf leicht nach rechts wandte. Wir standen vor dem Eingang zu einem Haus.
    Immer, wenn ich vorbeigehe, schaudert es mich, sagte er. In diesem Haus habe ich die scheußlichsten Jahre nach der Emigration meines Vaters verlebt. Obwohl ich
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