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Das Versprechen des Architekten

Das Versprechen des Architekten

Titel: Das Versprechen des Architekten
Autoren: Wilhelm Braumüller <Wien>
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Verdauung findet im Mund statt“ bedeutet. Hier muss ich erklären, dass durch den Mund meiner Komposition Verdauungsprozesse sprechen beziehungsweise miteinander sprechen. Man hört dort den Magen, die Gallenblase, die Nieren, die Gedärme. Aber wir hatten einander versprochen, dass es nicht um Musik gehen würde. Bestimmt wissen Sie, dass eine musikalische Begabung fast immer verbunden ist mit einer Begabung für Sprachen. Italienisch ist noch dazu die Sprache der Musiker. Basile Bernardo, der Komponist aus Salerno, hieltsich einen ganzen Monat lang in Brünn auf und nahm mich, als dieser vorüber war, nach Italien mit. Aber bevor er die Hochzeit organisieren konnte, lief ich ihm mit dem Musikproduzenten Frederico Fraccaroli davon. Doch kehren wir aus Italien nach Brünn zurück. Jetzt endlich zu dem, was Sie und Ihre Zuhörer, vermute ich, interessieren wird.
    Frau Fraccaroli steht auf und geht langsam zum Fenster und schaut über die Straße auf die gegenüberliegende Badeanstalt Zábrdovice. Sie steht dort jetzt mit dem Rücken zu mir, sodass ich mich auch erheben und hinter ihren Rücken stellen muss, um ihren Monolog aufzunehmen. Das ist schlimm, weil unter dem Fenster Trams und auch Lieferwägen und Laster vorbeifahren. Das wird wieder lustig werden, bevor ich eine saubere Aufzeichnung davon zusammenstopple. Aber Frau Fraccaroli gibt mir nicht die Gelegenheit, darüber nachzudenken. Sie spricht, und ich lausche mit offenem Mund.
    Als ich noch ledig war, hatte ich einen geradezu erschreckenden Namen, Švarcšnupfová. Mein Vater, Rudolf Švarcšnupf, war Leutnant der Staatssicherheit. Wie alle in jenen Diensten hatte er einen Stasi-Beinamen, für die Öffentlichkeit war er Leutnant Láska. Er war in so einem großen Polizeiposten in der Běhounská tätig. Gewohnt haben wir in der Pekařská in einem alten Pawlatschenhaus. Es war die Wohnung des Komponisten Maňoušek, der im Neunundvierzigerjahr emigriert war, und ich habe nie mehr was von ihm gehört, obwohl ich später in der Musikwelt nach ihm forschte. Ich war nämlich davon überzeugt, dass er ein extraordinärer Komponistwar, wenngleich diese Überzeugung auf gar nichts fußte. Ich wusste einfach, dass er ein brillanter Komponist war, und basta. Ich dachte oft an ihn, und wenn ich nach meiner italienischen Hochzeit in Rom, in Madrid, in Paris, in Amsterdam, in New York, in Tokyo, in Rio de Janeiro mit Musikern und Musikpublizisten zusammentraf, versuchte ich immer auf eine Spur von ihm zu stoßen. Aber vielleicht war es ihm nicht geglückt, die Grenze zu überschreiten, und vielleicht haben sie ihn an der Grenze von Hunden zerreißen lassen oder etwas in der Art. Trotzdem glaube ich immer noch, dass ich ihm möglicherweise einmal irgendwo begegnen und ihm erzählen werde, wie verbunden ich ihm bin. In jener Pawlatschenwohnung war nämlich von ihm ein Piano zurückgeblieben. Na, eigentlich ein Pianino, so ein kleines Piano mit vertikal gespannten Saiten. Und jetzt sind wir da, worauf ich hinauswill. Als ich drei, vier Jahre alt war, und das ist die Zeit, von der ich rede, war ich ein auffallend zurückgebliebenes Kind, und ohne die Musik wäre ich da nie rausgekommen. Und dieses Pianino, das, bitte, war mein Aufzug, der mich da herausgeholt hat. Papa hatte keine Ahnung von Musik, und gerade das, was mich an der Musik erregte, war dem, was sich meine Eltern unter Musik vorstellten, schrecklich fern. Also brauchten sie sehr lange, ehe sie begriffen, dass ich in Wirklichkeit ein musikalisches Wunderkind war. Das heißt, Papa hat es nie erfahren, weil er eines Tages plötzlich verschwand. Im Grunde stieß ihm etwas Ähnliches zu wie diesem Musiker, nur mit dem Unterschied, dass man von Maňoušek wenigstens wusste, dass er emigriert war oder versuchthatte zu emigrieren. Mein Vater zerging eines Tages einfach, löste sich auf, ging in einen anderen Aggregatzustand über oder wurde vielleicht vom Erdboden verschluckt. Anders konnte Mama sich das nicht erklären.
    Frau Fraccaroli wandte sich vom Fenster ab und kramte eine Schachtel Zigaretten hervor: Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich Sie jetzt wohin verschleppe, wo ich mir eine anzünden kann?
    Ich folgte ihr wie ein Schaf. Wir durchquerten die Halle, und Frau Fraccaroli steuerte auf ihr äußerstes Ende zu und bog hier nach rechts ab und führte mich durch irgendeinen verwahrlosten Raum, der früher einmal eine Sauna oder ein großes Badezimmer gewesen sein mochte, aber jetzt ragten dort nur Rohre aus
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