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Das verschwundene Kind

Das verschwundene Kind

Titel: Das verschwundene Kind
Autoren: Doris Bezler
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jedem anderen Fall hätte er aus dem, was er zu sehen bekam, Schlüsse auf die Todesursache und den Tathergang gezogen. Jeder Tatort erzählt eine Geschichte, wie er bei Fortbildungsveranstaltungen die jüngeren Kollegen gern lehrte.
    Mühsam registrierte er die Tatsachen. Nicht Maren, es ist nicht Maren Wiegand, dröhnte es in seinem Kopf. Özlem Onurhan ist tot, nicht Maren. Özlem Onurhan heißt sie. Und er schämte sich dafür, dass ihn nun eine tiefe Erleichterung durchströmte. Als er erneut in die Gesichter seiner Kollegen blickte, wurde ihm klar, dass sein beruflicher Neubeginn in Offenbach auf dem besten Weg war, sich in einen grandiosen Fehlstart zu verwandeln.
    *
    Maren Wiegand bremste ihren Wagen ab, um besser nach einer Parklücke suchen zu können. Hinter ihr quietschten Reifen. Im Rückspiegel konnte sie erkennen, dass sie bereits einen kleinen Stau auf der reich befahrenen Wittelsbacher Allee im Osten Frankfurts verursacht hatte. Nun blockierte auch noch ein Lieferantenfahrzeug vor ihr die Fahrspur, und sie musste ausscheren. Aggressives Hupen ließ Maren zusammenzucken. Heute Vormittag schien es unmöglich, einen Parkplatz in der Nähe ihres Wohnhauses zu finden. Ihre morgendliche Hochstimmung wich allmählich der alltäglichen Anspannung. Dabei hatte sie sich so sehr auf die vor ihr liegenden freien Tage gefreut. Maren wollte die Herbstferien nutzen, um das dritte Zimmer in ihrer Wohnung zu renovieren und einzurichten, den Stapel Bücher, den sie sich zurechtgelegt hatte, endlich zu lesen, die Buchmesse zu besuchen, mit ihrer Freundin Sybille shoppen zu gehen, die Turner-Gemälde in der Schirn zu betrachten und endlich zu genießen, wozu während des Schulalltags keine Zeit blieb. Julia, ihre zehnjährige Tochter, war bereits am Samstag mit ihrem Vater, Marens Ex, nach Mallorca geflogen.
    Kurzentschlossen parkte Maren ihr Fahrzeug in der nächsten Einfahrt. Auf der Rückbank befanden sich mehrere Pappkartons mit violetten Erika, gelben Astern, Gräsern und Efeu. Eigentlich hatte sie im Lebensmittelladen nur eine bescheidene Kühlschrankfüllung für die nächsten Tage erstehen wollen, doch dann hatte sie sich in ihrer Ferienstimmung entschlossen, den Balkon neu zu bepflanzen. Der Wetterbericht hatte einen »goldenen Oktober« vorhergesagt, und Maren stellte sich vor, heute Nachmittag bei einer Tasse Kaffee gemütlich inmitten der neuen Bepflanzung zu sitzen und zu lesen.
    Gerade hatte sie die hintere Tür des Wagens geöffnet und zwei der Kartons auf dem Gehsteig abgestellt, als sie im tiefsten Hessisch von hinten angeraunzt wurde: »Ja, was gibt dann des, wanns feddisch is? Sehn Sie dann net, des des e Einfaad is?«
    Maren wusste schon, wer sie da ansprach. Der Mann wohnte in diesem Mietshaus und kümmerte sich als Hausmeister um einige Häuser in der Nachbarschaft. Grund genug, sich wichtigzumachen. Seinen Namen hatte sie vergessen. Sie hatte seine Dienste bisher nicht benötigt. Jetzt stand er, die Arme vor der Brust verschränkt, im Vorgarten. Sein Pfannkuchengesicht und die von einem graumelierten Haarkranz umgebene Stirnglatze glänzten schweißfeucht. Durch seine Hornbrille mit Gläsern, dick wie Aschenbecher, funkelte er Maren böse an.
    Die blaue Latzhose, die er trug, spannte über seinem Bauch. Irgendwie kam er Maren vor wie ein aufgeplusterter Uhu. Neben ihm stand die Mini-Ausgabe dieses seltsamen Vogels, ein etwa siebenjähriger Junge, mit blau umrandeter Kinderbrille, blond und spillerig. Beim Anblick des komischen Duos musste Maren sich alle Mühe geben, ernst zu bleiben. Sie versuchte es mit dem Register »nettes hilfloses Frauenzimmer bittet um wohlwollendes Verständnis« und säuselte: »Bitte, nur ein paar Minuten. Ich wohne da vorn und will nur schnell ausladen. Versprochen!«
    Der Uhu blieb ungerührt. »Naa«, stöhnte er gedehnt. »Des säschd ihr doch alle. Schdeisch ein, oder isch hol die Bolizei!«
    »Bis die kommen, bin ich weg. Stellen Sie sich doch nicht so an!«, begann Maren zu schimpfen.
    »Die sin schneller da, als ihr dengt«, konterte der Wichtigtuer, »isch hab gude Kondagte zum fünfde Rewier, un wenn isch aaruf, komme die gleisch. Un jetz mach disch endlisch fodd, awer e bissi dalli!«
    Maren war sauer. In einer Seitenstraße hatte sie schließlich einen Parkplatz gefunden und musste mehrmals laufen, um alles auszuladen. Die Einkäufe hatte sie schnell auf der Treppe vor der Haustür abgestellt und damit den Weg versperrt, so dass die junge Mutter, die zwei
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