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Das verschwundene Kind

Das verschwundene Kind

Titel: Das verschwundene Kind
Autoren: Doris Bezler
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Bauchlage passte nicht zum Ablauf. In Stephans Vorstellung fiel die Tote in Richtung der Zugkraft und kam auf dem Rücken zum Liegen, sofern der Täter sie von hinten gewürgt und mitgeschleift hatte. Dafür sprachen auch die umgeklappten Ecken des Teppichs, an die sich der Kommissar jetzt wieder erinnerte. Stephan versuchte, sich einen Tathergang vorzustellen, bei dem es am Schluss zu dieser Bauchlage kommen konnte. Vielleicht war sie vor dem hinter ihr stehenden Täter in die Knie gesackt, und er hatte sie nach vorn gedrückt, vielleicht sogar rücklings auf ihr gekniet. Entsprechend müsste man Blutergüsse auf ihrem Rücken finden. Stephan notierte sich das auf seinem BlackBerry und merkte nicht, dass er dabei von Heck mit ironischem Grinsen gemustert wurde. Der alte Kommissar schwor auf sein kleines, schwarzes Büchlein, in das er mit einem sorgfältig gespitzten Bleistift alles Wichtige eintrug.
    Lars Stephan rekonstruierte weiter in Gedanken. Bei dem eben skizzierten Szenario kam das Opfer beim Fall frontal auf dem Gesicht zu liegen. Vielleicht hatte sich die seitliche Drehung des Kopfes bei einem letzten verzweifelten Ringen um Luft ergeben, vielleicht aber auch erst post mortem, als der Täter seine Tatwaffe, wahrscheinlich ein Seil oder einen Gürtel, unter ihr hervorgezogen und offensichtlich wieder eingesteckt hatte, denn ein mögliches Tatwerkzeug war nicht identifiziert worden. Konnte man von einem Vorsatz ausgehen, oder hatte der Mörder im Affekt gehandelt?, fragte sich Stephan, ohne seinen Kollegen an seinen Überlegungen teilhaben zu lassen. In dem aufgeräumten Wohnzimmer hatte nichts auf einen Kampf hingedeutet. Vielleicht gab es weitere Hinweise am Körper oder an der Kleidung der Toten? Das würde die Spurensicherung bald herausfinden und noch mehr, denn wenn sich alles so abgespielt hatte wie in Lars Stephans Vorstellung, dann musste der Körper der Toten mit Täterspuren übersät sein. Insofern hegte er eine gewisse Hoffnung, dass dieser Fall schnell aufzuklären sei und er doch keinen so schlechten Einstand auf der neuen Dienststelle geben würde. »Morde sind doch meistens Beziehungstaten«, sagte er leise und wandte sich an Gerhard Heck, der die Geduld besessen hatte, ruhig abzuwarten und ihn seinen Gedanken zu überlassen, und der nun zustimmend nickte.
    »Geld oder Liebe. Oder eine Mischung von beidem. Bei Mord ist die Motivlage immer ziemlich einfach.«
    Es lag Traurigkeit in seiner Stimme, weil sich Heck auch nach seinen vielen Dienstjahren noch nicht mit dem abfinden konnte, was Menschen einander antaten.
    »Wissen wir schon etwas von ihrem Umfeld?«, fragte Lars Stephan. »Wurde der Anrufbeantworter abgehört? Hat jemand nach ihr gefragt?«
    Heck zuckte mit den Schultern. Das wirkte bei seiner Größe von bald einem Meter neunzig merkwürdig unbeholfen.
    »Sie wird von niemandem vermisst«, erklärte er. »Keine Auskünfte der Wohnungsnachbarn. Keine Einbruchsspuren, Täter wurde hereingelassen oder hatte Schlüssel. Unser Grünholz ist übrigens mit Ernie unterwegs und befragt die anderen Leute im Haus.«
    Lars Stephan musste über den Spitznamen schmunzeln, den der Alte ihrem jungen Kollegen Tobias Hölzinger verpasst hatte. Mit Ernie meinte er Ernestine Hoff, die mit zum Team des K 11 gehörte, heute Morgen aber noch nicht im Dienst gewesen war, weil sie erst ihren Sohn zum Kindergarten bringen musste.
    »Gibt es Verwandte, die wir benachrichtigen müssen?«, fragte Lars Stephan.
    Heck nickte. »Der Rest der Familie, zwei Brüder, zwei Schwestern und die Eltern, wohnen alle in einer Siedlung Richtung Mühlheim.«
    »Dann müssen wir da zuerst hin«, entschied Lars Stephan.
    In Hecks verwittertem Gesicht bildeten sich noch mehr Falten. Mit einem beinahe väterlichen Stirnrunzeln entgegnete er: »Ich mach das mit Sera, ist heute, glaube ich, besser.«
    Dabei ließ er seine Hand schwer auf Stephans Schulter fallen, womit er klarstellte, dass Widerspruch nicht angebracht war. Stephan nickte. Mit Sera war offensichtlich Serafettin Gümüstekin gemeint. Dieser war ihm bei Dienstantritt als Ausländerbeauftragter der Offenbacher Polizei vorgestellt worden. Er erinnerte sich an einen gepflegten, dunkelhaarigen Mann im Anzug und mit ruhigem, freundlichem Auftreten. Dass Heck sofort entschieden hatte, Sera für das schwierige Gespräch mit der türkischen Familie einzuspannen, betonte einmal mehr Hecks Status als alter Fuchs und erfahrener Insider. Von ihm konnte Stephan noch viel über die
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