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Das verschwundene Kind

Das verschwundene Kind

Titel: Das verschwundene Kind
Autoren: Doris Bezler
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musste. Hektisch lief sie durch alle Zimmer, kontrollierte ihre Schmuckschatulle, Julias Sparschwein, die Schublade mit dem Klimpergeld, Laptop, Fotoapparat. Nichts fehlte. Atemlos ließ Maren sich in Julias Zimmer auf das Bett fallen und suchte nach Erklärungen. Wer außer ihr hatte noch einen Wohnungsschlüssel? Julia, selbstverständlich! Ein dritter Schlüssel war bei Sybille, zum einen, weil ihr diese Wohnung gehörte, zum anderen, falls einmal aus Versehen die Tür zufallen sollte. Und sie hatte ja auch einen Schlüssel zu Sybilles Wohnung in der Comeniusstraße. Der bei Sybille deponierte Schlüssel für Marens Wohnung war auch für Harry, ihren Lebensgefährten, zugänglich. Harry als der große Unbekannte? Stattete er dem Kater, der einstmals ihm gehört hatte, hin und wieder heimlich einen Besuch ab? Verrückt! Maren überlegte, wie sie dies demnächst durch geschicktes Nachfragen herausfinden könnte. Dabei glitt ihr Blick über die Buchrücken im Regal gegenüber von Julias Bett. Ein Buch in der obersten Reihe stand auf dem Kopf. Maren zog es heraus, um es wieder richtig einzuordnen, doch es ließ sich nicht ganz hineinschieben. Nachdem sie sich auf Zehenspitzen gestellt und das Hindernis hervorgekramt hatte, hielt sie völlig verblüfft eine leere Dose Katzenfutter in der Hand.
    *
    Die Spurensicherung war eingetroffen. Gerhard Heck hatte den Leuten erklärt, dass man die Frau habe umdrehen müssen, weil man nicht sicher war, ob sie noch lebte, wofür er ungläubiges Köpfeschütteln erntete. Lars Stephan würde sich später bei ihm bedanken.
    Inzwischen untersuchten sie das zweite Zimmer der Wohnung, das mit einer Bettcouch, einem großen Spiegelschrank und einer kleineren Kommode ausgestattet war. Alles wirkte extrem sauber, neu und gepflegt.
    »Wenn sie Muslimin ist, müssen wir schnell arbeiten, denn die werden sie baldmöglichst beerdigen wollen, und dann brauchst du gute Gründe, warum das nicht geht«, erklärte der Alte.
    Lars Stephan nickte stumm, wobei er weiter die Umgebung musterte. Die Zimmertür war angelehnt, so dass von nebenan die Geräusche der Spurensicherung nur gedämpft herüberdrangen. Man hörte ihre kurzen Kommentare und Anweisungen und auch, dass sie sich über das Abschneiden der Kickers im letzten Spiel unterhielten. Aus dem Wohnungsflur ertönte ein metallisches Geräusch, gefolgt von einem leisen Fluch.
    »Wohin?«, fragte einer.
    »Geradeaus«, antwortete ein anderer.
    Die Kollegen mit dem Zinksarg, dachte Lars Stephan. Die vertraute Routine der dienstlichen Abläufe trug dazu bei, dass er sich allmählich von seinem Schreck erholte und in den Alltag zurückfand. Er nahm sich vor, möglichst bald herauszufinden, wo Maren steckte.
    »Fassen wir noch einmal zusammen«, begann Gerhard Heck und schaute in sein aufgeschlagenes Notizbuch. »Özlem Onurhan, dreißig Jahre alt, laut vorgefundenem Personalausweis, Adresse einer Arztpraxis mit Einsatzplan für Mitarbeiterinnen, hat dort vermutlich aushilfsweise als Arzthelferin gearbeitet, zuletzt vor einem Jahr, zurzeit vermutlich keine Berufsausübung. All das haben wir in ihrer Handtasche gefunden, und die war draußen auf dem Balkon versteckt. Ausschlaggebend sind meiner Meinung nach eher die Dinge, die wir nicht gefunden haben. Merkwürdigerweise gibt es nämlich keinerlei Unterlagen, also Steuer, Versicherung, Arbeits- oder Mietverträge, was man halt so hat. Todesursache: wahrscheinlich erdrosselt, Zeit: vor etwa zwei Tagen. Genaueres wissen wir morgen.«
    Lars Stephan nickte schweigend und runzelte die Stirn. Die Tote war ihm viel jünger vorgekommen. Jedoch wusste er, wie sehr der Tod das Aussehen eines Menschen verändern und dadurch die Schätzung des Alters erschweren konnte. Er dachte daran, wie diese Frau vor ihm auf dem Teppich gelegen hatte. Jetzt erinnerte er sich auch, schwarz-blau unterlaufene Streifen an ihrem Hals wahrgenommen zu haben. Strangulationsmale, vermutete auch Lars Stephan, und vor seinem inneren Auge lief ein Film ab, in dem jemand von hinten überraschend an die Frau herangetreten war, ihr eine Schlinge um den Hals geworfen und diese unerbittlich zugezogen hatte. Er sah die zitternden Finger der Frau, die verzweifelt versuchten, das Würgeband zu lösen, und erinnerte sich an senkrecht zu den streifenförmigen Malen verlaufende Kratzspuren an ihrem Hals. Irgendwann war die Frau dann in sich zusammengesunken und bäuchlings auf den Boden gefallen. An dieser Stelle kam sein Film ins Stocken, denn die
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