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Das verschwundene Kind

Das verschwundene Kind

Titel: Das verschwundene Kind
Autoren: Doris Bezler
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    Samstag, der 6. Oktober
    S ie stand im zugigen Treppenhaus vor der Wohnungstür und lauschte in alle Richtungen. Je näher sie diesem Totenhaus gekommen war, desto heftiger jagte ihr das Blut durch die Adern. Niemals hatte sie hierher zurückkehren wollen. Gestern hatte sie in wilder Flucht den grausamen Ort verlassen. In der Nacht waren Gespenster mit geifernden Fratzen gekommen, hatten sie ausgesaugt und blutige Krallen in ihr Fleisch geschlagen. Das erste Licht in den Fenstern half ihr in den Tag. Es ernüchterte sie schlagartig und versetzte sie in einen nie gekannten Zustand von Wachheit und Klarheit. Deine Panik gestern hat dich Fehler machen lassen! Dumme Fehler, die du dir nicht erlauben kannst! Du hast nur an dich und das kleine wimmernde Bündel gedacht. Du glaubtest, er ist hinter dir her und will dich holen. So, wie er sie geholt hat. Wenn man spurlos verschwinden will, lässt man seine Jacke nicht in der Wohnung hängen!
    Womöglich befanden sich darin noch verräterische Utensilien, anhand derer er sie schnell gefunden hätte! Er, der unbekannte, bedrohliche Verfolger, der gestern gezeigt hatte, dass er auch morden konnte, leise, heimlich und grausam.
    Und dann war ihr noch etwas eingefallen: der Schlüssel zu ihrer Wohnung! Der befand sich auch hier hinter dieser Tür. Irgendwo. Wo nur hatte ihr liebes Mädchen den aufbewahrt? Am Ende gar mit Namen oder einer anderen Kennzeichnung, so dass man schnell herausfinden konnte, in welche Tür er passte! Wenn
er
ihr Mädchen trotz aller Vorsichtsmaßnahmen hier gefunden hatte, würden ihm winzigste Spuren genügen, auch sie ausfindig zu machen. Sie musste jeden Hinweis auf sich verschwinden lassen. Das bedeutete, ihre bebende Angst zu überwinden, sich noch einmal dort hineinzuwagen und die Jacke und den Schlüssel mitzunehmen.
    Unten auf der Treppe wurden Stimmen laut. Sie zog das Kopftuch tiefer ins Gesicht. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie mehrere Versuche brauchte, um den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Die Handschuhe, die sie sich angezogen hatte, behinderten sie zusätzlich. Aber die Handschuhe mussten sein, der Fingerabdrücke wegen. Vielleicht erwarteten sie bereits Polizisten hinter der Tür, die bemerkt hatten, dass jemand sich Zutritt verschaffen wollte.
    Sie presste ihr Ohr gegen das glatte Holz. Außer dem Pochen ihres Herzens und dem Rauschen des Blutes konnte sie nichts wahrnehmen. Der Aufzug schepperte hinter ihr. Sie zog den Türknauf zu sich her und drehte den Schlüssel mit einer schnellen, vorsichtigen Bewegung herum. Die Tür sprang auf. Sie schlüpfte wie eine Katze durch den Spalt und sorgte mit Hilfe des Schlüssels für ein lautloses Zuschnappen des Schlosses. Im dämmerigen Flur schlug ihr ein muffiger Geruch entgegen. Er war süßlich und schwer. Rochen Tote schon nach einem Tag so? War sie denn immer noch da? Wer hätte ihren Tod aber auch bemerken sollen? Wer außer – ihm? Ihr Blick tastete sich vorsichtig zu der Tür am anderen Ende des Flures. Sie stand ein Stück weit offen. Hatte sie gestern in der Panik bei ihrer Flucht nicht gerade diese Tür hinter sich zugeschlagen, um dem Verfolger, den sie in dem Schrank vermutete, ein Hindernis entgegenzusetzen? Hatte sie gestern nicht für den Bruchteil einer Sekunde darauf gewartet, dass sich genau diese Tür in ihrem Rücken öffnen und er sich über sie werfen könnte? Es war nicht geschehen. Sie war unbehelligt hinausgekommen und dann nur noch gerannt, gerannt um ihr Leben. Jetzt war diese Tür, die ins Wohnzimmer führte, geöffnet. Der Anblick trieb ihr Tränen in die Augen. Ein Fuß war zu sehen, verdreht auf dem Teppich. Daneben stand schräg der Schuh, als sei er achtlos abgestreift worden. War das gestern auch so gewesen? Sie ist noch da!, flüsterte es in ihr. Wer immer diese Tür geöffnet hatte, der hatte sie dort liegen lassen. Achtlos. Kaltblütig. Er war also hier gewesen. Sie hatte sich nicht getäuscht. Am Ende hatte er sie heimlich beobachtet und schon längst versucht, ihre Identität herauszufinden. Ihr Blick fiel auf die Garderobe. Dort hing ihre Jacke noch auf dem Bügel. Genau so, wie sie das Kleidungsstück gestern hier aufgehängt hatte. Sie erinnerte sich noch, wie sie dabei gerufen hatte, hallo, mein Mädchen, ich bin wieder zurück, sollen wir uns Pizza kommen lassen? Dann war sie ins Wohnzimmer gegangen.
    Als hingen schwere Eisenkugeln an ihren Füßen, machte sie einen ersten Schritt in Richtung der Garderobe und damit in Richtung
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