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Das verschwundene Kind

Das verschwundene Kind

Titel: Das verschwundene Kind
Autoren: Doris Bezler
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beobachteten den neuen Hauptkommissar im Offenbacher K 11 , dem Kommissariat für Gewaltverbrechen, aus gebührendem Abstand und kommentierten seine Reaktion mit fragendem Schulterzucken.
    Hätte er Maren doch wenigstens angerufen. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, nachzuforschen, wo sie jetzt wohnte. Immer noch in dem kleinen Dörfchen im Taunus, wo sie sich damals begegnet waren? Oder hier in Offenbach, in dieser Wohnung im Domgarten! Er hätte es gleich an der geschmackvollen, modernen Einrichtung bemerken müssen, dass dies Marens Wohnung war. Vermutlich hatte ihr Ex alles finanziert. Vielleicht wohnten sie sogar zusammen. Moment mal, unterbrach er sich in Gedanken. Ein Banker aus Frankfurt, der sich eine Wohnung in Offenbach nimmt? Das gibt es doch gar nicht! Diese Überlegung war es, welche die Flut seiner inneren Bilder ein wenig bremste. Dennoch bedeutete es für ihn einen enormen Kraftaufwand, die antrainierten professionellen Verhaltensmuster abzurufen und sich wieder seinen Kollegen zuzuwenden. Behutsam ließ er das Haar aus seinen Fingern gleiten und zog langsam seine Hand zurück.
    Er blickte in die Runde. In den Gesichtern der beiden Streifenbeamten vom Offenbacher Zweiten Revier stand sichtliches Unbehagen. Die Frau war einen Kopf größer als ihr Kollege. Sie stand wie eine große Schwester hinter ihm und hielt ihre Mütze in den Händen. Der kleine Polizist stand breitbeinig im Vordergrund und warf dem Kommissar unter dem tief sitzenden Schirm seiner Mütze skeptische Blicke zu. Brauchst du uns noch?, schien er zu fragen, oder können wir jetzt unserer Arbeit nachgehen? Das, was du hier veranstaltest, sieht allerdings nicht danach aus.
    Am wenigsten gefiel Lars Stephan der Gesichtsausdruck von Tobias Hölzinger, des jüngsten Mitarbeiters und Kommissaranwärters aus dem K 11 . Allzu deutlich war bei Hölzinger ein Ausdruck von Geringschätzung auszumachen. Du stößt dir auch noch die Hörner ab, du Jungbulle, dachte Stephan. In Kriminalhauptkommissar Gerhard Hecks Gesicht las er väterliche Besorgnis. Der Alte stand kurz vor der Pensionierung und sollte Lars Stephan, der vom Polizeipräsidium Westhessen hierher versetzt worden war, einarbeiten.
    »Du kennst sie?«, fragte der alte Kommissar.
    Lars Stephan registrierte überrascht, dass der Alte als Einziger Lars Stephans Verhalten angesichts der Toten richtig gedeutet hatte.
    Lars Stephan nickte vorsichtig.
    »Sie heißt …«, hörte er sich sagen und erkannte plötzlich seine eigene Stimme nicht mehr. Er stockte. Ihren Namen auszusprechen, war ihm nicht möglich.
    »Özlemonurhan«, murmelte Heck. Stephan runzelte die Stirn und sah seinen Kollegen fragend an.
    »Sie heißt Özlem Onurhan«, wiederholte Heck geduldig und bemüht, jede Silbe deutlich auszusprechen. »Woher kennst du sie?«, ergänzte er dann noch.
    Mit einem Schlag war es Lars Stephan klar, dass hier ein Name ausgesprochen wurde. Ein anderer Name. Nicht der, den er erwartet hatte. Einem erneuten Impuls folgend, wobei er abermals alle dienstlichen Gepflogenheiten außer Acht ließ, kniete er sich neben den Kopf der Toten und strich ihr behutsam, beinahe zärtlich das Haar aus dem Gesicht. Dann packte er den Kopf mit beiden Händen und drehte das Gesicht zu sich her. Das Raunen der Mitarbeiter hörte er nicht. Er betrachtete forschend das rundliche Gesicht. Das waren nicht die ausgereiften Gesichtszüge einer Frau von Mitte dreißig! Die Frau vor ihm konnte nicht viel älter als zwanzig Jahre sein. Sie war wohl sehr hübsch gewesen, doch der Tod hatte ihre Züge bereits entstellt. Die Augen waren unterschiedlich weit geöffnet und blutunterlaufen, die Pupillen wirkten milchig. Die Gesichtshälfte, auf der sie gelegen hatte, war bläulich verfärbt. Der Mund war schief verzogen, die Zunge hing heraus. Ihr Speichel hatte einen dunklen Fleck auf dem Teppich hinterlassen. Einige Haarsträhnen klebten an den Wangen, und am Hals zeigten sich schwarz-bläuliche Striemen. Die Kollegen standen reglos im Halbkreis und mussten nun auch noch mit ansehen, wie der Kommissar die Tote mit geübtem Griff auf den Rücken drehte, um ihr ganzes Gesicht sehen zu können. Der Leichengeruch breitete sich nun deutlich wahrnehmbar aus und ließ die Umstehenden zurückweichen. Keiner wagte, etwas zu sagen, und keiner außer Heck verstand, warum sich ein erfahrener Hauptkommissar am Tatort so eklatant falsch verhalten konnte.
    Normalerweise hätte Lars Stephan die Tote unter keinen Umständen angerührt. In
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