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Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
Autoren: Tamar Yellin
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in meinen Ohren kräftiger und fremder als erwartet. Und ich merke, wie lange es her ist, dass ich zu singen versucht habe.

Dreiunddreißigstes Kapitel
     
    Auf jüdischen Friedhöfen legt man anstelle von Blumen Steine auf die Gräber. Keine Blüten, sondern kleine Felsstückchen als Zeichen, dass man da war.
    Hier auf dem Ruheberg gibt es viele Gräber, staubige, weiße Steinplatten mit Metallbuchstaben darauf. Aus der Ferne sieht der Hügel aus, als sei er von weißen Särgen bedeckt. Die Gräber sind in Terrassen den Hang hinunter angeordnet, dazwischen stehen niedrige Lavendel- und Rosmarinhecken. Weiße Treppen führen von einer Terrasse zur nächsten.

    Die Gräber liegen Seite an Seite im Schatten einer Konifere; nah genug beieinander, um freundschaftlich zu wirken, aber doch für immer voneinander getrennt. Sie hängen aneinander wie vielleicht auch zu Lebzeiten, gefangen in ihrer Ecke zwischen so vielen Fremden. Losgelöst und unabhängig.
    Er war im Leben liebenswert und freundlich
ungestört und friedlich
Und selbst im Tode sind sie nicht getrennt.
    Auf jüdischen Friedhöfen legt man anstelle von Blumen Steine auf die Gräber, um zu zeigen, wie hart es ist, es hinzunehmen. Als würde eine Träne, die auf das Grab gefallen ist, sich in Stein verwandeln, in ein Symbol für die Endgültigkeit und das Hinnehmen. Und weil mein Herz hart ist und weil ich es hinnehme, lege ich zwei Steine auf das Grab meines Vaters und meiner Mutter, einen für mich selbst und einen im Namen meines Bruders.
    Ich stehe da und betrachte die Aussicht. Am Ende der Hügelkette machen sich die ersten Hochhäuser breit. Ich zerdrücke einen Rosmarinzweig zwischen den Fingern und rieche daran.
    Auf dem Grab meines Vaters liegen zahlreiche alte Steine zwischen angewehtem Laub und toten Kiefernnadeln. Ich frage mich, wer sie dorthin gelegt hat und wann; wie lange es her ist; wer der Trauernde.

Vierunddreißigstes Kapitel
     
    Hier stehe ich, an einer glitschigen Straßenecke am Rande von Mea Shearim, in der Nähe eines düsteren Ladens, in dem, hinter orangefarbener Plastikfolie, geprägte Gebetbücher und religiöse Traktate und Tischtücher für den Shabbat verkauft werden. Ich stehe unter dem rostigen und baufälligen Balkon im dritten Stock dieses alten Mietshauses.
    Vor langer Zeit hat mein Vater mich hierher mitgenommen, um mir zu zeigen, wo er einmal hinuntergefallen ist, der Geschichte zufolge, im Alter von fünf Jahren: die Stelle, wo er lag und wo sein Lebenssaft in den Gully floss. Er stand da unter dem rostigen Geländer, beugte sich vor und zeigte mir noch einmal die tiefe, S-förmige Narbe, die Stelle, an der der Knochen mit einer bleibenden Fuge zusammengewachsen war, glänzend und weißlich und, schon damals, eine ständige Erinnerung an eine furchtbare Verletzung. Ich erinnere mich, wie ich als ganz kleines Kind mit dem Finger über diese eigenartige Tätowierung fuhr, sie für symbolisch hielt, sogar für magisch: ein Kennzeichen geheimer Macht. S wie Shepher.
    Vielleicht fragte er sich selbst, ob seine außergewöhnliche Rettung etwas zu bedeuten hatte, ob dies der Moment war, dessentwegen er gerettet worden war: für dieses Wunder, seinem eigenen Kind eines Tages die Stelle zu zeigen, an der er beinahe gestorben und dann wiederauferstanden war.
    Mein Vater lehrte mich die hebräische Sprache lieben: die Blaupause des Universums in ihren sieben Häusern, die Ahnung von Unendlichkeit in ihren Zahlen, den Humor und die Poesie in ihren Ableitungen: dikduk Grammatik, ledakdek es genau nehmen, dakdak hauchdünn wie das Manna in der Wildnis oder wie die ruhige, leise Stimme in der Wüste.
Ich war eine begierige Schülerin, und dass ich nicht davongaloppierte wie mein Bruder, der sein verzweifeltes Pferd in den Sonnenuntergang trieb, lag vielleicht daran, dass ich mit zu großen Schätzen beladen war: jiddischen Wiegenliedern, bruchstückhaften Anekdoten, schlechten Witzen und Sprichwörtern: Toirah ist die beste Shoirah , Lernen ist die beste Ware, Auf ein Gannef brennt der Hittel, Auf dem Kopf eines Diebs brennt der Hut. Ein Sack voll Verschnitt und erratischer Traditionen, ein Sammelsurium von Einzelheiten, die nie ein Ganzes ergeben würden: kein ganzes Tuch, kein fertiges Kleidungsstück, sondern Überbleibsel des Exils, aufgeschnappt und weitergegeben in einer Art Verzweiflung. Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.
    Jetzt bin ich frei, diese Fragmente durchzusieben, deren Farben nicht verblassen, sondern im Gegenteil
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