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Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
Autoren: Tamar Yellin
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mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Ja. Woher weißt du das?«
    »Oh«, erwidere ich gelassen, »ich habe so meine Quellen.«
    Wieder schaut er auf mein Buch. Er sieht, dass ich ein Foto als Lesezeichen benutze. »Und«, fährt er fort, »hast du gefunden, was du hier gesucht hast?«
    Ich zupfe an dem Bild von Hannah zwischen den Seiten. »Ja. Das habe ich tatsächlich. Und du?«
    »Oh ja«, sagt Gideon.
    »Wo ist der Kodex jetzt?«
    »Er ist erst mal in Sicherheit.« Sein Lächeln wird breiter.
»In einer Genisa.« Ich kann nicht anders als ebenfalls lächeln.
    »Und wie willst du ihn nach Hause bringen?«
    »Wie schon? Seite für Seite. Keine Sorge. Wir können ihn wieder binden. Und«, er schaut sich unruhig um, »kommst du noch mal wieder, was meinst du?«
    »Ja. Bald, hoffe ich. Und du?«
    »Bald, vielleicht.« Er denkt nach. »Aber erst mal nicht.«
    »Sag mal, ist der Kodex wirklich perfekt?«
    Ich schaue ihm in die Augen.
    »Für uns so perfekt wie eurer für euch. Wer weiß? Vielleicht kannst du es eines Tages selbst herausfinden.« Er greift in seine Tasche. »Ich habe etwas für dich. Es ist nur ein Stück Papier«, sagt er und reicht es mir. »Man könnte sagen, ein kleines Beweisstück.«
    Tatsächlich ist es ein Stück Pergament; ein Brief, einst versiegelt, jetzt gebrochen, im Laufe der Zeit ausgeblichen und vielfach gefaltet.
    »Ein Beweis?« Ich spüre sein Gewicht zwischen meinen Fingern. »Wenn es ein Beweis ist, warum hast du es mir nicht längst gegeben?«
    »Manchmal möchte man gerne wissen, ob einem jemand vertrauen kann, ohne einen Beweis zu brauchen.«
    »Und Cobby …?«
    »… hätte mir nicht geglaubt, egal, wie viele Beweise ich ihm geliefert hätte. Es gibt Leute, die glauben an nichts außer ihrer eigenen Skepsis.« Er deutet mit dem Kopf auf das Pergament. »Das hat dein Urgroßvater vor hundertdreißig Jahren meinem Urgroßvater vorgelegt, und jetzt gebe ich es dir zurück. Mach es jetzt noch nicht auf. Also«, sagt Gideon. »Ich nehme jetzt deine Hand.«
    Zu meiner Überraschung nimmt er sie.
    »Jetzt verabschiede ich mich.«

    Zu meinem Erstaunen küsst er mich auf die Wange.
    »Ein Gruß unter Cousins. Und ein Zeichen meines Danks. Meine Mutter würde es mir nicht verzeihen«, fügt er hinzu, »wenn ich dich nicht auf einen Verwandtschaftsbesuch einladen würde. Wir sehen uns in Baku.«
    Er steht abrupt auf und geht fort, den Rucksack lässig über die Schulter geworfen, und verlässt mich mit einem kleinen Winken.
    Ich starre noch lange auf den Punkt in der Menge, an dem Gideons biblische Gestalt verschwunden ist. Mich überkommt eine schwere Last von Gefühlen. Es scheint mir absurd, unmöglich, dass ich je fliegen sollte. Schließlich stehe ich auf, gehe auf die Toilette und spritze mir lauwarmes Wasser ins Gesicht. Das Gesicht im Spiegel sieht verquollen und müde aus. Nicht zum ersten Mal, aber immer noch wie etwas Neues, gestehe ich mir ein, dass ich mittleren Alters bin.
    Halb ängstlich, halb neugierig entfalte ich das Pergament:
    Mit Gottes Hilfe, die Heilige Stadt, 5. Kislev, 5626 Verehrte und geliebte Brüder, seit uns bewusst geworden ist, dass die Tage der Vernichtung bevorstehen und die Tage des Messias nahe sind, sind wir von der Sehnsucht nach unseren Brüdern erfüllt, die der Herr in die entferntesten Winkel der Welt verstreut hat, und wir verspüren den starken Wunsch, ins Antlitz unserer Brüder zu schauen, wohin auch immer der Herr sie verstreut hat, bis zu der Zeit, wenn Er sie zurückführt wie die Ströme des Negev und auf Adlerschwingen, in die Heilige Stadt Jerusalem. Und so hat unser geliebter Bruder Reb Shalom aus Skidel es auf sich genommen, diese gefahrenvolle Reise anzutreten, um unsere verlorenen Brüder zu suchen, mit ihnen um die
Herrlichkeit Zions zu trauern, die vergangen ist, und über den Messias zu jubeln, der kommen wird.
    Die nächste Stunde oder noch länger starre ich auf die Seiten meines Buchs und blättere um, aber ich lese nicht, und als ich im Flugzeug an meinen Sitz geschnallt bin, stiere ich mit leerem Blick aus dem kleinen Fenster. Flirrende Hitze steigt vom toten Asphalt auf. Es wird Sommer. Ich weiß nicht, wann ich wiederkomme oder in welcher Jahreszeit. Als das Flugzeug mit einem erbarmungslosen Schlingern abhebt, verdrehe ich den Hals, um noch einen Blick auf diesen schmalen Streifen Land vor dem endlosen Blau des Mittelmeers zu werfen.
    Jetzt sind wir beide Reisende: ich in den Westen und Gideon in den Osten. Wir tragen
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