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Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
Autoren: Tamar Yellin
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Reb Shalom krank. Obwohl er täglich ein ganzes Huhn verzehrte, das seine Frau für ihn kochte, wurde er immer dünner. Schließlich verlor er zum ersten Mal in seinem Leben den Appetit.
    Als es ihm nach einer ganzen Weile noch immer nicht besser ging, entschloss er sich, einen berühmten Arzt in Wilna, dem Jerusalem Litauens, aufzusuchen.
    Der berühmte Arzt untersuchte ihn und stellte fest, dass er Blut spuckte.
    Er sagte: »Ich kann nichts für Euch tun, aber wenn Ihr nach Italien reisen könntet, würde es Euch vielleicht besser gehen.«
    Reb Shalom dachte einen Augenblick darüber nach. Schließlich sagte er: »Und wenn ich in das Land Israel fahre?«
    Der Arzt verstand nicht, wovon er sprach. »Meint Ihr Palästina?«, fragte er.
    Reb Shalom verstand nicht, wovon der Arzt sprach.
    »An welche Stadt hattet Ihr gedacht?«, fragte der Arzt.
    Reb Shalom antwortete: »Jerusalem.«
    »Oh, ja«, sagte der berühmte Arzt. »Jerusalem ist ebenso gut wie Italien.«
    Shalom Shepher kehrte nach Bielsk zurück und sagte seiner Frau, er werde nach Jerusalem gehen. Sie brach auf der Stelle in Tränen aus.
    »Wie könnte ich Vater und Mutter verlassen?«, schluchzte sie.
    Er sagte: »Wenn du so empfindest, können wir uns scheiden lassen. Wir haben keine Kinder, da wird die Trennung uns leicht fallen.«

    Dann ging er zu seinem Schwiegervater und sagte zu ihm: »Ich werde nach Jerusalem gehen, und meine Frau möchte mich nicht begleiten. Da sie so empfindet, kann sie sich von mir scheiden lassen. Wir haben keine Kinder, und so sollte es ihr leicht fallen. Ich schicke ihr jeden Monat etwas Geld, bis sie einen neuen Mann gefunden hat.«
    Und er gab ihr die Scheidung.
    Dann packte er sein Bündel mit Gebetsmantel, Gebetsriemen und Psalter und machte sich zu Fuß auf den Weg zum Schwarzen Meer.
    Es dauerte zwei Jahre, bis er am Schwarzen Meer ankam. Unterwegs wurde er wieder krank, und wo immer er Juden begegnete, nahmen sie ihn auf, damit er sich erholen konnte. Sein Appetit kehrte jedoch nicht zurück, und er wirkte wie ein Todgeweihter. Aber er wusste, dass nicht der Tod von seinem Körper Besitz ergriffen hatte, sondern eine große spirituelle Sehnsucht.
    Wo immer er Juden begegnete und sie herausfanden, wer er war, brachten sie ihm ihre Schriftrollen zur Korrektur. In vielen Gemeinden verweilte er und prüfte die heiligen Pergamente. Deswegen brauchte er so lange, um an sein Ziel zu kommen.
    Als mein Urgroßvater das Schwarze Meer erreicht hatte, ging er an Bord eines kleinen griechischen Schiffs, das die Küste Palästinas ansteuerte. Es dauerte weitere sechs Monate, bis der Hafen von Jaffa in Sicht kam.

Drittes Kapitel
     
    Im November 1938 ging mein Vater im Hafen von Jaffa an Bord des Schiffs »Methusaleh« und fuhr nach Southampton. Er war von einer großen spirituellen Sehnsucht erfüllt,
fühlte sich gedrängt, Palästina zu verlassen und nach England zu gehen.
    Ebenso wie sein Vorfahre war er klein und stämmig, und er neigte ebenso wie dieser zu Sodbrennen und schmerzhaften Blähungen, die ihn sein ganzes Leben lang plagten. Ich frage mich wirklich, ob ein Zusammenhang zwischen großer spiritueller Sehnsucht und schlechter Verdauung besteht. Manche Menschen verspüren ihr ganzes Leben lang keine spirituelle Sehnsucht und erfreuen sich stets einer hervorragenden Verdauung. Ich hingegen nehme diese Sehnsucht als harten, stopfenden Klumpen irgendwo unterhalb des Brustbeins wahr, und Essen bedeutet Leiden. In dieser Hinsicht bin ich die spirituelle Erbin meines Urgroßvaters.
    »Mein Herz ist im Osten und ich im fernen Westen«, schrieb der Dichter Jehuda Halevi. »Wie kann ich schmecken, was ich esse, wie kann ich Hunger haben?« Mein Urgroßvater ging an Bord eines Schiffs gen Osten, mein Vater ging an Bord eines Schiffs gen Westen, und ich sitze in England und habe Verdauungsstörungen.
    Aber an Bord eines Schiffs zu gehen bringt keine Heilung für diese Art Krankheit. Auch nicht, in einen Zug oder ein Flugzeug zu steigen. Als mein Vater in Southampton ankam, sehnte er sich schon bald nach Palästina. Als Shalom Shepher durch die Tore Jerusalems tritt, treiben ihn schon bald andere Träume um. Solche Männer zeugen unruhige Kinder.
    Dies weiß ich über die schicksalhafte Abreise von 1938: Er trug ein weißes Hemd und keine Krawatte. Er rauchte eine Zigarette und zog dabei die Augenbrauen zusammen. Auf der Lippe hatte er eine Narbe, die im Winter immer wieder aufplatzte. Er war erst dreiundzwanzig Jahre alt, fühlte
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