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Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
Autoren: Tamar Yellin
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einem lang erwarteten Gast entgegen.
    »Der Ballebejssl kommt«, bemerkt er.
    Ich habe den großen Tisch in der Wohnzimmerecke abgeräumt. Ich habe die silbernen Kerzenleuchter meiner Großmutter gerettet. Ich habe Wein und Kerzen, ich habe
Hefezopf. Ich habe, was ich brauche, um den Shabbat willkommen zu heißen.
    Saul sitzt misstrauisch in seinem angestammten Sessel und beobachtet mich kommentarlos beim Tischdecken. Er kommt mir verwirrt vor, wenn nicht gar feindselig. Wir haben seit dem Malheur kaum miteinander gesprochen: Er sieht mich an und traut sich nicht, mich zu beschuldigen. Ich sehe ihn an und kann ihn nicht beschuldigen. Ein glückliches Patt.
    Aber jetzt, als ich den Segen vorbereite, wiederholt er, als sei er entschlossen, den einen wunden Punkt zu treffen - wie wenn man einen faulen Zahn hat und immer wieder mit der Zunge daran herumspielen muss -, das alte Mantra, weil er weiß, dass ich darauf reagieren werde, weil er weiß, dass ich es ihm dieses Mal, endlich, nicht mehr durchgehen lasse.
    »Ich hab sie nämlich mal erwischt«, erzählt er, »ihn und seine Freundin. In flagranti. Oben auf dem Boden, genau wie dich heute. Pfui! Wie konnten sie so etwas tun, und dann noch in diesem Haus! Das erklär mir mal bitte, wenn du kannst - wo dein Großvater unten drunter saß!«
    Es hätte ihn sonst nicht gekümmert, aber der Dachboden war seiner, sein Platz, an den er ging, um seine Ruhe zu haben und seine Gedichte zu schreiben. Es gab nicht viele Ecken in diesem Haus, wo man ein bisschen ungestört und für sich sein konnte. Er ging nicht dort hinauf, um herumzuschnüffeln - es gab damals ohnehin nichts zu schnüffeln, und selbst wenn es etwas gegeben hätte, warum hätte es ihn interessieren sollen? Er war ein Junge - ein junger Mann, ein Dichter. Er ging dorthin, um seine Muse zu finden. Und dann besudelten sie diesen Ort. Er ging nie wieder hinauf, es war für immer verdorben.
    »Und deine Mutter«, sagte er, »die hat er nie wirklich geliebt.
Er hat Hannah geliebt - Hannah war die Einzige, die er wirklich geliebt hat.«
    Ich sehe den Ausdruck in seinen Augen und erhasche eine Ahnung von etwas Tieferliegendem, von etwas, das noch zu entdecken ist. Hatte Saul ebenfalls Geheimnisse? Gab es Eifersüchte? Enttäuschungen, über die ich höchstens spekulieren konnte?
    Ich hole den Umschlag aus meiner Tasche: den, den ich die ganze Zeit mit mir herumgetragen habe. Der Einzige, der überlebt hatte, das einzige gerettete Fragment. Ich reiche ihn Saul und beobachte ihn beim Lesen: Mit tiefer Befriedigung betrachte ich seinen Gesichtsausdruck.
    Dieser Abschied hat mir gezeigt, dass es, wenn wir je ohne einander würden leben müssen, ein furchtbarer Kampf wäre, und ich weiß nicht, ob ich das schaffen würde. Es scheint mir nicht nur eine Frage der Liebe zu sein, sondern des Lebens selbst.
    Er sieht wortlos zu mir auf. Ich reiße ihm den Brief aus der Hand.
    »Sag das nie, nie wieder«, schließe ich nachdrücklich und falte den Brief zusammen. Dann nehme ich die Streichhölzer, um die Shabbat-Kerzen zu entzünden.
    Saul erhebt sich widerstrebend. Aber er versteht meine Absicht und ist, glaube ich, dankbar, als ich den letzten Segen im alten Haus vorbereite. Ich stehe neben ihm in der Düsterkeit von Kiriat Shoshan, betrachte sein knorriges, verdrießliches, verzerrtes Gesicht - es ist wie die Gesichter, die man manchmal in alten Baumstämmen sieht - und denke, dass er nicht unglücklich sein wird auf seinem Gipfel, in seiner heruntergekommenen Wohnung mit Blick auf den See, wo er allein sitzt und die alten Dichter liest, wo an diesigen
Tagen die Hügel auf der anderen Seite nicht zu erkennen sind und er zu einem Horizont schauen kann, der hinter unergründlichen Möglichkeiten versteckt liegt. Ich glaube nicht, dass es ihm dort schlecht gehen wird. In vielerlei Hinsicht denke ich, Saul ist ein Shepher in Reinform: einsam, ungepflegt, voller unerfüllter Träume und Ambitionen; genährt von trockenem Brot und herzhaftem Bedauern; in ewiger Erwartung seines eigentlichen, aufgeschobenen Schicksals.
    Jetzt, da die Sonne untergeht und die Sterne erscheinen, singe ich den Segen in der Melodie meines Vaters, der Melodie, die er benutzte, als wir noch zu Hause wohnten, er und meine Mutter, mein Bruder Reuben und ich, damals, als wir gemeinsam um den Familientisch standen. Die Töne steigen in ihrer zerbrechlichen Melancholie in die Nacht hinauf, feierlich vor Freude, beladen mit Erinnerungen. Meine eigene Stimme klingt
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