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Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
Autoren: Tamar Yellin
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zuvor nicht bemerkt habe, still und zurückhaltend steht er am Ende des Raumes. Ob er später hineingeschlüpft ist oder schon die ganze Zeit da war, kann ich schlecht sagen. Er ist so sehr wie die anderen, dass es gut möglich ist, dass ich Gideons Anwesenheit nicht bemerkt habe.
    Kaum habe ich ihn entdeckt, da begegnen sich unsere Blicke, als habe er die ganze Zeit darauf gewartet, dass ich auf ihn aufmerksam werde, und er grinst und zeigt in Richtung des hinteren Flurs, wo wir uns eine Minute später treffen, irgendwo zwischen Bad und Besenkammer, und bevor wir auch nur die Gelegenheit haben, ein Wort zu wechseln, steige ich die Leiter hinauf und er hinter mir her, in die warme, staubige Stille des Speichers.
    »Irgendwo hat er Recht«, sagt Gideon und deutet nach unten, von wo aus die Stimme des Rabbiners durch die Bodendielen heraufdröhnt. Ich weiß nicht, ob er es ernst meint oder ironisch. Ich lasse ihn nicht aus den Augen: Er schaut sich mit dem Interesse eines Archäologen oder Detektivs um, schiebt hier ein Stück Stoff beiseite, hebt dort ein Dokument an. Er streckt sich und streicht mit den Fingern über die Dachpfannen.
    »Das ist also der berühmte Dachboden«, sagt er. »Dies ist die Genisa des Hauses Shepher.«
    Unten erheben sich die Stimmen zu einer weiteren Diskussion.

    »Glaubst du, sie wissen es schon?«
    »Noch nicht«, antworte ich.
    »Natürlich nicht. Und wenn sie es erfahren, werden sie sich trotzdem weiterstreiten.«
    »Aber wenigstens kommt die Sache nicht vor Gericht«, sage ich.
    »Immerhin.«
    »Es wird den Zank natürlich nicht beenden.«
    »Nein, natürlich nicht.«
    »Es geht ums Prinzip.«
    »Ah. Klar. Es geht immer ums Prinzip.«
    »Die Frage ist ja: Wem gehört der Kodex?«
    »Und die Antwort ist: keinem von ihnen, am Ende.«
    Wir lächeln uns an. Zwischen uns liegen etwa drei Meter durcheinandergewürfeltes Gerümpel. Sein Gesicht wirkt gelassen in der dunklen Umrahmung seiner Schläfenlocken, und in diesem Moment denke ich mit voller Überzeugung: Er ist einer von uns.
    »Das ist der Kasten«, sage ich, »wo sie ihn gefunden haben.«
    Ich winke ihn heran, und er stellt sich dicht davor, sieht auf das Kästchen hinab, das klein ist und abgesplittert, ziemlich gewöhnlich und unansehnlich, eine Salzkiste vielleicht oder eine für saure Gurken oder Gewürze oder Tabak, mit Flecken, die nach Tinte oder Fingerabdrücken aussehen. Und als ich es öffnen will, nur der Dramatik zuliebe, schaut er mit dem Strahlen des Entdeckers hinein wie Ali Baba in die Räuberhöhle.
    Gideon echot: »Hier haben sie ihn gefunden.«
    Er kauert jetzt so dicht neben mir, wie es nur möglich ist: Ich spüre seinen Atem auf meiner Wange, die Berührung seines Mantels an meinem Arm. Sein Atem riecht nach Süßigkeiten, wie der eines Kindes, und ihm scheint gar nicht
bewusst zu sein, wie nah er mir gekommen ist oder wie elektrisiert der Zentimeter Luft zwischen uns ist. Gemeinsam heben wir den Deckel des Holzkastens, und dabei berühren sich unsere nackten Finger: Mein Arm streift seinen Arm, mein Atem vermischt sich mit seinem Atem, und ich denke, wie schön es wäre, wenn dies der wahre Augenblick der Entdeckung wäre, der Augenblick, in dem der Kodex zum ersten Mal gefunden wird. Wenn die Uhr zurückgedreht worden wäre und wir ihn fänden, Gideon und ich gemeinsam, so wie es ohnehin hätte sein sollen. Sodass, als wir ihn jetzt vorsichtig und respektvoll herausheben, in sein altes Tuch eingeschlagen, ihn auf den Boden des Speichers legen, meine Wange an seiner Wange, meine Hand an seiner Hand, niemand außer uns von dem Kodex wüsste. Und auch nie jemand zu wissen bräuchte, dass wir die Wahrheit entdeckt haben, die Offenbarung.
    »In flagranti!«
    Ein Quietschen der Leiter: Schnell schließen wir den Kasten, klopfen uns den Staub aus den Kleidern, stehen verschämt auf, um dem Eindringling gegenüberzutreten. Es ist Saul, natürlich, der leise heraufgeschlichen kommt, um uns zu erwischen. Sein Stoppelkopf erscheint, wie entkörpert, in der Luke, und er lässt misstrauisch den Blick über den gesamten Boden schweifen wie den Strahl einer Taschenlampe. Ich will schon eine Erklärung stammeln, da stelle ich fest, dass ich allem Anschein nach allein bin: Gideon ist verschwunden, ebenso wie das Buch. Ein einzelner Lichtstrahl fällt durch das Dach, wo ein paar Pfannen entfernt wurden, um Licht hereinzulassen.
    »Wo ist er hin?«, fragt Saul.
    »Wo ist wer hin?«
    »Ich habe euch beide doch gesehen. Ich
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