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Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
Autoren: Tamar Yellin
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seinen Schwager besucht!«
    Yossel sieht aus, als würde er gern ein Nickerchen machen, aber nach einem Rippenstoß von seiner Schwester fährt er fort: »Er war im Krieg da.«
    »In welchem Krieg?«
    Diese Frage scheint dem alten Mann die Sprache zu verschlagen, er bekommt einen verträumten Ausdruck, als verlöre er sich in Erinnerungen an eine Fülle von Kriegen, die nicht zu unterscheiden waren und keine Daten hatten.
    »Hat er den Kodex mitgenommen?«, fragt einer aus dem Clan.
    »Den Kodex?« Er scheint darüber nachzudenken. »Woher
soll ich wissen, ob er den Kodex mitgenommen hat? Wenn ich gewusst hätte, dass es überhaupt einen Kodex gibt, dann würde ich doch jetzt nicht hier stehen!«
    Gelächter ertönt angesichts dieser ehrlichen Erklärung, die für Sara Malkahs Geschmack zu direkt war. Sie schiebt ihren Bruder hastig fort. »Er ist müde«, murmelt sie. »Offensichtlich erschöpft.«
    Die Menge ist uneins: Miriam erhebt sich und bittet um Ruhe, als mich plötzlich jemand an der Schulter berührt.
    »Entschuldigen Sie - gveret ?« Es ist die Journalistin, die unbemerkt durch die Küchentür hereingekommen ist. Bei ihrem Anblick fängt mein Herz an zu hämmern. »Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«
    »Sicher.« Ich zucke mit den Achseln. »Ich weiß aber nicht, ob ich Ihnen irgendwie weiterhelfen kann.«
    »Gehören Sie zur Familie?«
    »Ich bin eine entfernte Verwandte. Aus England. Nur zu Besuch. Ich weiß kaum etwas über die ganze Sache.«
    »Aus England?« Sie wirkt überrascht. Vielleicht hatte sie mich für eine Amerikanerin gehalten. »Dann wissen Sie gar nichts über den Kodex?«
    »Ich fürchte, damit habe ich überhaupt nichts zu tun. Ich weiß nicht mal so genau, was ein Kodex ist.«
    Wir lächeln gemeinsam. Sie macht sich ein paar Notizen, sieht mir über die Schulter, und ich versuche, den Drang zu unterdrücken, mich davonzumachen, mich irgendwo zu verstecken, auf die andere Seite des Hauses zu laufen. Warum sind Journalisten Polizisten so ähnlich?
    »Die Dame dort hinten«, ich zeige in Miriams Richtung, »wird Ihnen bestimmt etwas Vernünftiges sagen können.«
    Aber Miriam ist von einem Riesen zur Seite gedrängt worden, einem Koloss mit Schläfenlocken, sicher keinem Abkömmling des Shepher-Clans. Das muss er aber doch
sein, denn er trägt den Namen Rabbi Gershom Shepher von Mea Shearim, und er erklärt jetzt in einem Ton, der das Haus in seinen Grundfesten erschüttert, der Kodex sei das Werk eines Hochstaplers, ein Betrug und eine Fälschung, ein missgebildetes Buch, das sichergestellt werden müsse, dem Vergessen anheimgegeben und verboten gehöre, und er zeigt ein fleckiges Plakat in diesem Sinne vor (das er bereits überall in Mea Shearim hat anschlagen lassen): dass diese korrumpierte Schrift und jeder, der seine Verbreitung fördere, die sofortige Verbannung aus dem Hause Israel verdiene.
    Das kann sie sich nicht entgehen lassen: Meine Journalistin schreibt eifrig mit und hat jegliches Interesse an mir verloren.
    »Der Text ist pasul - ungültig!«, donnert der Rabbiner. »Er muss ordentlich beerdigt werden!«
    »Wie kannst du da so sicher sein?«, fragt jemand: ein kleiner Mann, akademischer Typ, in einer engen Jacke und mit Brille. Ich bewundere seine Kampflust.
    »Ich habe ihn selbst studiert. Ich selbst habe dem Institut einige Besuche abgestattet. Wenn man auch nur ein bisschen was davon versteht, ist es offensichtlich, dass der Text voller Fehler ist.«
    »Und woher weißt du, dass es nicht einfach eine abweichende Version ist?«
    »Abweichende Version? Wir brauchen keine abweichende Version!« Rabbi Shepher wendet ihm sein wütendes, hochrotes Gesicht zu. »Glaubst du, ich will meine Gemeinde mit so was konfrontieren? Was meinst du denn, was sie mit so einer Information anfangen sollen? Das Buch, das sie haben, das Gott ihnen gegeben hat, reicht nicht?«
    Ein untypisches Schweigen ist über die Versammlung gekommen: Alle starren erstaunt, verwundert, wütend, ehrfürchtig oder verächtlich den Rabbiner an, der sich über seinem
zaghaften Gesprächspartner auftürmt, ja geradezu bereit scheint, ihm alle Gliedmaßen einzeln auszureißen.
    Aber ich schaue an der überragenden Gestalt des Rabbiners vorbei, in die bunt gemischten Gesichter auf der anderen Seite des Zimmers. Aus meinen eigenen Gründen erstarre ich plötzlich. Denn wie im Traum (ist nicht das ganze Szenario wie ein Traum?) taucht ein blasses, olivfarbenes Gesicht zwischen den anderen auf, eines, das ich
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