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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind
Autoren: Rahel Sanzara
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Klara zweiundachtzig Jahre alt war, waren ihre Augen so
schwach, daß sie fast blind war. Jeden Morgen stand nun Martin als
erster auf und führte die Herrin von ihrer Stube die Treppe hinab in
die Küche, wo sie an Emmas Stelle das Frühstück bereitete, während die
Magd in den Ställen war. In der Küche konnte sich Klara gut
zurechtfinden, denn alles stand an altvertrauten Plätzen. Doch
außerhalb des Hauses mußte man sie führen. Im Sommer schnitt ihr Martin
eine Pfeife aus Holunderholz, mit der sie ihn herbeirief, wenn er sie
auf den kleinen Hügel in die Laube führen und von dort wieder
zurückholen sollte. Wenn dieser hohe, einem Vogelruf gleichende Triller
der kleinen Flöte erklang, sprang Martin, wo er sich befand, oft von
dem an seiner Seite ruhig weiterarbeitenden Herrn fort, in weiten und
leichten Sätzen schnellte er vorwärts, trotzdem seine Gestalt von Jahr
zu Jahr fleischiger und schwerer wurde, ungeachtet seiner unermüdlichen
Arbeit. Er langte atemlos an der Haustür an, wo Klara schon wartend
stand und lachend ihm entgegenrief: »Wo ist mein dicker Bär? Komm, Bär,
und führe mich in den Wunderwald.« Denn seit sie nicht mehr sehen
konnte, scherzte sie oft, sie sei wie ein Kind, das die Augen verbunden
habe und in ein Wunderland geführt werde, und eines Tages werde sie die
Augen noch einmal aufmachen und Herrlichkeiten sehen.
    »Jetzt besteigen wir den Kirchturm«, sagte Martin, wenn die
sanfte Wölbung des Hügels sich ihren Schritten entgegendrängte und
Klaras Füße schwerer vortasteten. »Jetzt sind wir auf der Spitze«,
sagte er, wenn sie oben waren und Klara sich auf die Bank der Laubs
niederließ. Beide lachten dann, er reichte ihr die Arbeit zu, die sie
mitgenommen hatte, und eilte in weiten Sprüngen zu seiner Arbeit
zurück. Er führte Klara auch an jedem zweiten Sonntag in die Kirche,
sagte ihr den Text des Gesanges an und sang neben ihr. Sie ließ sich
von ihm beschreiben, wie die Menschen aussahen, und was für Kleider die
Frauen trugen. Sie wurde neugieriger und lebendiger, als sie je in
ihrem Leben gewesen war. Von Zeit zu Zeit fiel sie den schweigsamen
Bruder an, betastete seine Gestalt und seinen Kopf und küßte ihn
stürmisch auf den Mund. Daß er sie nicht abwehrte und stillhielt, war
seine Erwiderung dieser Liebkosungen. Wenn Klara allein auf dem Hügel
in der Sonne saß oder an den Winterabenden inmitten der anderen in der
Küche am Herd, kamen die Erinnerungen. Aber nur die Erinnerungen an die
Kindheit, an Vater und Mutter, an die erste Heimat. Sie fühlte sich
wieder als Kind, sie spürte an ihrem Körper das süße Zittern, in dem
einst ihr Kinderkörper erzittert war unter dem Klopfen des erregten
Herzens, wenn ein Fest winkte oder eine Freude sich erfüllte. Sie
fühlte sich als junges Mädchen, fiebernd und bedrückt zugleich von den
großen Erwartungen, mit denen erfüllt das Leben noch vor ihr lag. Und
so starb sie, nach sechs Jahren, in hohem Alter. Ohne Krankheit schlief
sie ein, und ihr altersmüdes Herz wußte nichts mehr von dem, was es
einst auf der Höhe seiner Lebensbahn an menschlichem Leid ertragen,
seine matten Schläge verhallten in aufrauschender Erinnerung an die
Jugend. Als junges Mädchen, in glühender, traumhafter Erwartung des
Lebens glitt die Sterbende in ihren Tod. Goldene Nebel lagerten vor
ihren blinden Augen, die längst nicht mehr Tag und Nacht unterschieden
hatten. Der Tod war so leicht, die um sie waren, merkten ihn nicht
kommen, und ihr Gesicht, voll und fast ohne Falten, mit zarter,
mattglänzender Haut, lächelte.
    Als auch sie begraben war, so wie sie es gewünscht hatte,
begann das Leben auf dem kleinen Hofe hart, schweigsam und dürftig zu
werden. Die wärmeausstrahlenden Herzen der beiden Frauen waren tot,
ihre nie endenden Träume verschwebt aus der Luft. Verlassen war alles.
Die Magd tat die Arbeit, aber den Lohn, ihr Herz, ihren Traum trug sie
fort vom Haus. Der zweite Knecht wechselte oft, da es den meisten zu
still und zu streng auf dem Hofe war. Der Knecht Martin arbeitete für
alle, die fehlten, und für alle, die noch da waren. Er arbeitete bis
spät am Abend in den Wochentagen, und an den Sonntagvormittagen
arbeitete er auch. Zur Ruhezeit sank er müde um, kein Gesang tönte mehr
aus seinem Mund, kein Tier umgab mehr, wie einst, sein Lager, die
Kinder im Dorf vergaßen ihn, selten kam er zu ihnen.
    Neben Martin, unermüdlich, wenn auch mit ermatteter Kraft,
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