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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind
Autoren: Rahel Sanzara
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an den Sarg
heran und schob in die gefalteten Hände der Toten einen winzigen
Gegenstand: ein Spielzeug, aus drei Kirschkernen Gespann und Wagen
geschnitzt. So trug die Mutter jenes leichte, zierliche Denkmal seiner
Schande mit ins Grab, von ihm, den sie geliebt hatte wie ihr Kind, der
aber ihr Kind nicht hatte sein dürfen, bis zuletzt.
    Der Sarg wurde nun zugenagelt, und der Zimmermann und der Herr
trugen ihn auf den Wagen im Hof, den Martin schon eingespannt hatte.
Klara bedeckte den Sarg mit großen Zweigen von Flieder und frisch
grünenden Linden und Buchen. Sie stieg mit Martin auf den Wagen, und
sie setzten sich zu beiden Seiten des Sarges auf die Bänke nieder,
während Christian lenkte.
    Die Pferde, deren goldbraune, sorgsam gestriegelte Felle in
der golden strahlenden Sonne glänzten, zogen fröhlich an und konnten
nur schwer in eine langsame, würdige Gangart gebracht werden.
    Der Tag im Mai war schön. In blühender und grünender Pracht
die Erde, fern, hoch und freudig der blaue Himmel, die Luft, von Sonne
durchwärmt und durchgoldet, kosend zwischen beiden, Vögel durchstießen
sie jubelnd. Der Wagen fuhr durch das Dorf, dann weiter auf der
Landstraße nach S. zu, denn Emma sollte dort, in dem Familiengrab,
neben der Frau und dem Kinde ruhen, so hatte es Christian angeordnet.
Als sie zum Dorfe hinaus waren, begannen die Pferde wieder zu wiehern
und zu laufen, der Sarg wurde hin und her gerüttelt, und Klara stützte
ihn mit den Händen. Ihre Augen, sehr getrübt in den letzten Jahren,
blickten mit dem gleichen traurigen Frieden auf den hin und her
schwankenden Sarg, in den schönen Tag und auf Martin, der schwer und
dick ihr gegenübersaß und aus seinen kindlichen Augen runde Tränen
ruhig und perlend in seinen lockigen Bart rinnen ließ. Doch auch in
seinem Innern war Friede. Der sanfte Schmerz, den er um die Tote
fühlte, die für ihn auch, wie für die anderen, »Emma« geworden war, tat
ihm wohl. Spät am Nachmittag erst kamen sie auf dem Kirchhof an. Die
Totengräber nahmen den Sarg auf ihre Schultern und trugen ihn an das
geöffnete Grab, Klara und Christian folgten. Martin blieb bei dem Wagen
und den Pferden. So hatte es der Herr im letzten Augenblick bestimmt,
denn er wollte nicht, daß der Knecht das Grab der Frau und das des
Kindes sähe. Der Geistliche, der schon gewartet hatte, segnete die
Leiche und betete, dann wurde der Sarg niedergelassen und das Grab
sofort aufgeschüttet. Klara und Christian warteten, bis der Hügel
fertig war, und sie sahen die Grabstätte lange an: das Grab des Kindes
in der Mitte, rechts das Grab der Mutter, die das Kind geboren, und
links das Grab der Mutter, die seinen Mörder geboren. »Wenn ich vor dir
sterbe,« sagte Klara zu dem Bruder, »will ich da quer zu Füßen des
Kindes liegen.«
    »Nein,« erwiderte der Bruder, »du sollst oben, an seinem Kopfe
liegen.« Sie dankte dem Bruder mit einem warmen, fast freudigen Blick.
Sie ging zu der bezeichneten Stelle hin und zog, sich niederbeugend,
mit der Hand die Umrisse eines Grabes zu Häupten der drei Gräber aus
und sah wohlgefällig im Geiste ihren Hügel sich da erheben. »Schlaf in
Frieden, Emma,« sagte sie noch und nickte dem Grabe zu, »nächste Woche
werde ich dir Efeu pflanzen.«
    Sie gingen zurück zum Wagen und fuhren heim. Martin
kutschierte. In der Nacht kamen sie zurück.
    Klara war jetzt sechsundsiebzig Jahre alt, doch ihre volle
Gestalt war noch ungebeugt, ihr rundes Gesicht war fast ohne Falten,
ihr blondes Haar zeigte nur an den Schläfen weiße Strähnen, und nur
ihre Augen waren altersschwach und sehr getrübt von den vielen Tränen.
Ihr Gemüt ward mit den Jahren immer heiterer, oft scherzte sie und
lachte ein leises, etwas greisenhaftes Lachen, selbst in Beisein des
Bruders, dem gegenüber ihre Liebe doch stets mit Ehrfurcht gemischt
war. Das einzige Echo ihres Lachens und ihrer Scherzworte war Martin,
der mit ihr lachte und ihre Scherze mit den seinen erwiderte. Über
Emmas Platz am Tisch waren alle einander näher gerückt, so daß keine
Lücke da war, in Emmas Arbeit hatten sich die drei, Klara, die
einäugige Magd und Martin, geteilt. Doch legte Klara jedesmal nach dem
Essen, wenn abgeräumt war, das alte, einfache und abgegriffene
Gesangbuch, in dem Emma gern an den Sonntagen, da sie nicht zur Kirche
gegangen war, gelesen hatte, mitten auf den Tisch. So war wohl ihr
Platz ausgefüllt, aber ihr Andenken wurde geehrt.
    Als
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