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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind
Autoren: Rahel Sanzara
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nach ihm aus.
    Rausch von Traurigkeit und Wut stieg in ihm auf, seine Augen, bis jetzt
trotz des Biergenusses klar, verdunkelten sich, das Blut rauschte in
seinem Kopfe, ertäubte sein Ohr. Ohne Blick, ohne Gehör, die Glieder
leicht, wie von fremder Kraft getragen, mit auf und zu sich krampfenden
Händen, begann er in torkelnden Schritten nach den Kindern zu jagen, in
unverständlichen Worten böse Drohungen gegen sie auszustoßen. Den
Kindern war es ein leichtes, seinen unsicher taumelnden Schritten
auszuweichen, sie lockten ihn und hörten nicht auf, ihn zu höhnen.
Einer der Männer, die dem Schauspiel zusahen, scheuchte sie endlich
fort und führte den Knecht zum Dorfe auf die Landstraße hinaus, wo er,
von Baum zu Baum wankend, in doppelter Trunkenheit, nach zwei Stunden,
als es bereits dunkel war, daheim wieder anlangte.
    Die andern saßen in der Küche, in geheimer Sorge ein jeder.
Das Abendbrot war schon abgegessen, sie saßen und lauschten. Gerade als
der Herr sich erhoben hatte, um nach dem Knecht zu suchen, hörten sie
seine schweren, taumelnden Schritte, mit denen er am Hause vorbeiging,
dem Stalle zu. Dann war es lange völlig ruhig, und alle atmeten auf.
Aber plötzlich drang in die Stille ein furchtbarer Lärm, ein
grauenvolles Toben, gemischt aus dem rasenden Takt stampfender Füße,
der dröhnend von dem hölzernen Boden der Scheune im Stall herüberdrang,
und einem tierischen Quieken und Pfeifen, das anschwoll zu einem
mächtigen Schmerzensschrei, der dem eines Menschen in Todesnot glich;
dann war wieder plötzliche Stille, aus der der langgezogene Gesang des
Knechtes klar aufklang, der bisher allen Lärm umtönt hatte.
    Die Frauen erbleichten, gelähmt vor Entsetzen. Der Herr sprang
auf und eilte zu dem Stall. Als er zur Treppe kam, die zum Gelaß des
Knechtes führte, war alles, auch der Gesang, schon verstummt. Der Herr
kehrte wieder um und holte eine Laterne.
    Als er das Gelaß des Knechtes betrat, fand er diesen, schwer
atmend, in halbem Schlaf, über dem Bette liegend. Im Schein des Lichtes
glitzerten gläsern Tränen in den Locken seines Bartes, seine Beine
hingen herab, und die schweren Stiefel waren an den Sohlen mit Blut
beschmiert. Am Boden lag der Igel, auf dem Rücken, tot, blutend aus dem
zerstampften Kopf und dem Bauch. Der Herr holte ein Bündel Heu, hüllte
das tote Tier ein, wischte das Blut vom Boden auf und von den Sohlen
des Knechtes. Dann ging er in die Küche zurück, wobei er das tote Tier
auf dem Hof in die Mistkuhle warf, und sagte den Frauen: »Es ist
nichts. Er ist betrunken.« Dann stieg er wieder zu dem Knecht empor. Er
rüttelte ihn wach und richtete ihn auf. Er schöpfte mit der hohlen Hand
Wasser aus dem Waschgefäß und kühlte seine Stirn, er reichte ihm, der
bittend den ausgetrockneten Mund bewegte, den Krug zum Trinken. Der
Knecht sah den Herrn dankbar aus kindlichen, in Tränen und Trunkenheit
schwimmenden Augen an. Der Herr nahm den hölzernen Stuhl, der als
einziger in dem Gelaß stand, rückte ihn zum Bett des Knechtes und
setzte sich zu ihm.
    »Weißt du, was du getan hast?« fragte er.
    Der Knecht bewegte müde und traurig den Kopf.
    »Ich habe meine Söhne fortgeschickt,« begann der Herr wieder,
»und dich habe ich zu mir genommen. Ich habe für dich gesorgt über
meinen Tod hinaus, bis zu deinem Tode. Ich habe nie gefragt, ob du der
Mörder bist oder nicht Es gibt größere Fragen. Du gehörst zu meinem
Leben mehr als meine Kinder. Ich habe dir einen neuen Namen, eine neue
Heimat und eine neue Arbeit gegeben. Was ich für dich tun wollte,
gelang immer leicht und gut. Dir ist Gott gnädig. Aber wenn du Böses
tun mußt, kann ich es nicht mehr auf mich nehmen. Ich habe nichts mehr
zu verlieren, es geht um andere. Das soll nicht mehr auf mein Haupt
kommen. Du hast mit Fußtritten deinen Igel gemordet, den du doch selber
erzogen und gepflegt hast. Weißt du das? Warum hast du das getan?«
    Des Knechtes sanfte Stimme wurde von Schluchzen zerrissen, als
er antwortete: »Ich weiß nichts, Herr. Ich bin betrunken, das müßt Ihr
mir verzeihen. Ich war nie betrunken. Denn damit wollen sie einen immer
nur hetzen. 'Dort' war ich der Beste von allen. Ich mache niemand mehr
Schande. Ich danke Euch für die Arbeit, sie ist gut, sie gehört mir
allein. Der Igel gehört auch mir, ich habe ihm nichts getan, ich will
ihn wegbringen, denn Ordnung muß sein.« Er holte tief und seufzend
Atem. »Ich kann so schwer
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