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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind
Autoren: Rahel Sanzara
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S., unweit der Grabstätte, wo die Seinen ruhten.
    Christian B. lebte allein noch sieben Jahre. Er setzte die
einäugige Magd als Erbin des Mobiliars von dem Wohnhause ein, damit sie
bis an sein Lebensende bei ihm bleibe und für sein Begräbnis sorge. Er
hielt sich nur noch einen Knecht, und obwohl die Zeit durch furchtbare
Kriege, durch Hungersnot sehr schwer wurde in seinen letzten
Lebensjahren, ließ er doch die Hälfte der Äcker brachliegen. Während
der ersten Kriegsjahre erhielt er noch Nachricht von seinen Kindern aus
Amerika, es kamen Pakete voll fremdartiger Lebensmittel, auch Geld und
die Nachricht, daß alles gut gehe, zwei Kinder, Knaben, waren dem
jüngeren Sohn noch geboren worden, der Älteste war unverheiratet
geblieben. Das Geld und die Waren ließ der Vater in das Dorf bringen,
zur Verteilung unter die Armen. Die Briefe las er und verbrannte sie
dann. Er sah und hörte gut bis zu seinen letzten Tagen. Die Kräfte
seines Körpers und seiner Sinne verließen ihn nicht Er arbeitete bis
zuletzt, doch waren seine Bewegungen voll tiefster Müdigkeit, die nicht
aus der Schwäche der Glieder, sondern aus seiner verstummten Seele kam.
Er aß wenig und sprach fast nie. Er ging nie ins Dorf und suchte
niemals die Gräber seiner Verstorbenen auf. Er dachte nicht zurück, und
die Erinnerungen der Kindheit, deren Fülle und deren lichter Schein dem
Alter und dem Ende so gern sich wieder entgegenneigen, verscheuchte er.
Nicht Haß, nicht Versöhnung, nicht Liebe, nicht Verzweiflung konnte er
mehr fühlen. Alles war versunken einst, in der Blüte seines Lebens, in
der Demut vor Gott, den er erwartete. Doch jetzt dachte er auch nicht
mehr an Gott, er, der den göttlichen Funken in seiner Menschenbrust
rein gehütet hatte. Er vernahm noch den furchtbaren Niedergang seiner
Zeit, ihre leere Verzweiflung, ihre Not, ihre Verschwendung aus Armut,
die Mörder ohne Zahl und die Opfer ohne Zahl, er sah das Leben
verachtet, den Glauben tot. Er beklagte sie nicht. Ein leerer Raum,
nichts Menschlichem mehr erreichbar, so löste sich seine Seele am Ende
ihrer weiten Bahn von seinem Körper.
    Niemand war bei ihm, als er starb. Die Magd hatte ihn des
Morgens nicht gesehen und fand ihn, als sie sein Zimmer ordnen wollte,
tot in seinem Bett Seine Augen waren geschlossen, die Hände leicht
ineinander gefaltet. Sie rührte ihn nicht an. Sie öffnete den
Schreibsekretär, entnahm ihm einen Brief und lief damit ins Dorf zum
Schultheißen, wie der Herr es ihr bei Lebzeiten befohlen hatte. Der
Brief enthielt eine genaue Bestimmung seines Begräbnisses mit einer
dafür aufzuwendenden Summe in Gold- und Silberstücken. Da er auf dem
Friedhof in S. begraben wurde, folgten nur wenige Menschen seinem
Sarge, der aber bedeckt war von vielen Kränzen aus künstlichen Blumen,
die inzwischen aufgekommen waren. Er war Anfang November gestorben. Zum
Fest der Toten bemerkten die anderen sein frisches Grab mit dem Namen
Christian B., das da still erstanden war, und schon ergraute,
von Kummer und Not der Kriegsjahre vorzeitig gebeugte Menschen
erinnerten sich aus ihrer Kinder- und Jugendzeit des Unglücks, das mit
diesem Namen verknüpft war, und das sie damals alle so tief
mitempfunden hatten.
    Christians Anwesen wurde auf Verlangen der Erben verkauft und
das im Laufe der Jahre entwertete Vermögen einem Waisenhaus gestiftet.
    Ein junger Bauer erwarb das Gut und heiratete die einäugige
Magd, da sie die Besitzerin der Möbel war. In den blumenbemalten
Ehebetten gebar die Magd, obwohl sie schon vierzig Jahre alt war, vier
kräftige Kinder, die im Laufe der Zeit tobend das Haus und den Hügel
umspielten. In der Stube aber auf dem Nähtischchen, das der größte
Stolz der Magd war, stand noch immer das Bild des Kindes
Anna B., dessen Geschichte sie nicht kannte, und zeigte seine
bezaubernde Gestalt, sein lockenumspieltes Köpfchen, das geneigte
Gesicht mit traurigen Augen und lächelndem Munde, und das rechte
Händchen mit ausgestrecktem Zeigefingerchen weisend erhoben. Auch die
Magd schmückte seinen Rahmen und bewahrte es auf, da es ihr so gefiel,
und sie selbst nur Knaben geboren hatte.
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