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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind
Autoren: Rahel Sanzara
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seines Vaters nicht mehr.
Das Begräbnis fand am Mittag des nächsten Tages statt. Eine Woche
später wurde das Erbe nach den Bestimmungen des Testamentes geteilt. Es
war ein schönes, großes, schuldenfreies Bauerngut vorhanden und ein
Barvermögen von siebentausend Talern. Das Geld erbten die beiden
jüngeren Geschwister, Christian und seine einzige Schwester Klara, das
Gut übernahmen die beiden älteren Brüder und zahlten nach Vereinbarung
den kleinen Anteil, den die beiden jüngeren Kinder noch daran hatten,
aus der Mitgift ihrer Frauen aus, so daß sie es als Alleinbesitzer
führen konnten.
    Doch Christian kehrte nicht zur Stadt zurück. Ihn hielt die
Heimat, der Duft der Erde, der Dunst der Tiere, die Nähe der Menschen,
die gleich ihm groß, licht und still waren.
    Er blieb bei den Brüdern. Er ließ die Früchte seines
jahrelangen Studiums fallen, er verbarg sein Wissen, die Kenntnisse,
die er erworben, er diente den Brüdern zwei Jahre lang als Knecht,
arbeitete die schlechteste Arbeit um Lohn und Brot. Dann, nach zwei
Jahren, im Herbst, ging er fort und durchzog wandernd das Land. Als er
nach einem Monat zurückkam, hatte er, zweiundzwanzigjährig und kaum
mündig, die offene Pacht der Domäne Treuen übernommen. Die Brüder
schalten ihn. Zwar war der Zins nicht hoch, doch die Domäne, einem
großen, an der Grenze des Landes liegenden fürstlichen Grundbesitz zu
eigen, jahrzehntelang von Pacht zu Pacht heruntergewirtschaftet, befand
sich mit abgenutztem Inventar und ausgesaugtem Boden in einem solchen
traurigen Zustand, daß ohne Zuwendung aus eigenen Mitteln zur
Aufbesserung und Neuanschaffung von Vieh und Geräten kaum die Pacht zu
gewinnen war. Doch unbeirrt zog Christian im neuen Jahr dort ein. Die
erste Zeit war schwer und forderte die Arbeit seiner ganzen jungen
Kraft Tag und Nacht. Der Besitz war in der Anlage von größtem Ausmaße
und versprach vieles für einen Bewirtschafter, der durch Klugheit,
Unternehmungsgeist und eine höhere Umsicht das Gegebene nutzen konnte.
    Der junge Pächter ergriff alles mit einer verschwenderischen
Freude, mit einer Freude mehr an der Arbeit als am Gewinn. Er kam um
die Erlaubnis ein, aus eigenen Mitteln Ställe und Scheunen neu
aufzurichten, Werkstätten verschiedener Art in den leerstehenden
Katenwohnungen aufzutun, und erhielt sie auch gegen die Vergünstigung,
in der der Pacht zugehörigen Jagd fälliges Holz zu eigenem Nutzen
schlagen zu können. Er gründete mit den letzten Mitteln seines
Vermögens ein Hauswesen, das bald als das schönste im Landkreis galt.
Mit siebenundzwanzig Jahren hatte er Unkosten und Pacht überholt, besaß
zwei eigene Wagen mit schönen Kutschierpferden, und achtundzwanzig
Menschen gab er Arbeit und gutes Brot, Heimat und Frieden. Die
Verwaltung des Gutes verlängerte auf Grund dieser Erfolge die Pacht auf
fünfzehn Jahre und errichtete ihm ein neues, schönes, geräumiges
Wohnhaus.
    Christian lebte allein. Freude und Gewinn teilte er mit seinen
Knechten und Mägden, Sorgen und Mühen trug er allein. Als die größten
Schwierigkeiten bezwungen waren und seine Abende voll Ruhe, begann er
wieder in den Büchern der Schulzeit zu lesen, die er erst jetzt zu
begreifen meinte. Er las in der Bibel, und gerecht und gut geordnet
schien ihm die Welt unter Gottes Gesetzen. Er fühlte sich glücklich in
dem Leben, das er sich gewählt hatte, in der Arbeit, die ihm zugewiesen
worden war. Er sehnte sich, noch tiefer das einfache, allgemeine
menschliche Schicksal zu erfüllen, in seinem Herzen dachte er oft an
Weib und Kind. Begegnete er jungen Mädchen, so betrachtete er sie voll
inniger Rührung. Es waren hohe, starke Gestalten, die Wangen rot und
golden, wie Morgenröte gefärbt, das Haar wie die Felder im August, zur
guten Zeit der Ernte, der Mund schmal und fromm geschlossen wie der
seine. Die Augen, von der Farbe des Himmels am klaren Mittag, waren
gesenkt wie die seinen, wenn er leise und zart mit ihnen sprach. Aber
es hielt ihn zurück, die zu lieben, die geschaffen waren wie er selbst.
Er blieb allein. Mit Zärtlichkeiten umschmeichelte er die Haustiere,
streichelte das Fell des ergebenen Hundes, den dunklen, weichen Pelz
der Katze. Die Dunkelheit der Nacht, plötzlich um ihn geschlagen, wenn
er am Abend das Licht verlöschte, ermahnte ihn, die Furcht der Kindheit
war um sein Herz und hielt es einsam.
    Zu Beginn des Winters aber fuhr er an einem Mittag in die
kleine Stadt, um
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