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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind
Autoren: Rahel Sanzara
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weiten übrigen Welt, eine Macht, die ihn mit
mahnendem Zwang gefangenhielt, regungslos, totengleich in dieser
lebensfreudigen Minute, die ihn mit abgrundtiefer Furcht
durchschauerte, jetzt, in dem Augenblick der Erfüllung seines so klar
erkannten, so freudig selbstgewählten Glückes. Er vermochte sich nicht
zu rühren, um zu der geliebten, zum erstenmal ihm zugehörenden Frau zu
gelangen, es hielt ihn, es zwang ihn, wie einst als Kind, der Furcht,
der entsetzten Traurigkeit seines Herzens sich hinzugeben.
    Aber die Frau kam zu ihm. Aus ihrer lichteren Dunkelheit brach
sie über die Grenzen seiner Finsternis ein. Plötzlich stand sie vor
ihm, ihr warmer, reiner Atem wehte an seinen Mund, der Schimmer ihrer
weitgeöffneten, lebensfeuchten Augen stieg unter seine gesenkten Lider.
Sie strömte leises Lachen aus, sie schlang ihre Arme um ihn und zog ihn
mit sich zum Bett. Doch als er plötzlich ihren weichen Kuß auf seinen
Lippen fühlte und eine noch nie empfundene tiefe Lockung, packte er sie
fest an ihren Schultern, hielt sie noch einmal ab von sich, lange,
suchte in der Dunkelheit die Nacht ihrer Augen, bis er sie, die weich
ihm entgegenstrebte, endlich in seine Arme nahm.
    Sie lebten in einer guten Ehe, in einer langen Reihe von
gesegneten Jahren. Der Mann war ein guter Herr, voll Klugheit und
unermüdlichem Fleiß in der Arbeit, voll fast weiser Fürsorge für die,
die er sich ihm anvertraut hielt. Er konnte befehlen und auch
beschenken, er war redlich im Gewinn, der stets nur der gute Lohn der
guten Arbeit blieb. Die Frau stand ihm zur Seite in Fleiß und Gehorsam.
Was er gebot, war ihr heilig. Er war der Herr am Tage, dem sie untertan
war, nie wagte sie, die doch ganz in Glück getaucht war, tagsüber ein
Lachen, eine Zärtlichkeit. Doch nachts, von der Dunkelheit umhüllt,
ließ sie in ihrem freudig erregten Atem langes leises Lachen aus ihrer
Brust ausströmen, schmiegte sich an ihn und zog ihn wie ein Kind in die
Umarmung.
    Im Winter gebar sie ihren ersten Sohn. Das Kind war zart, und
die Mutter, geschwächt von der ersten Geburt, konnte ihm nicht die
Nahrung geben. So kam Emma in das Haus, um das Kind zu säugen.
    Emma war eine Magd vom Gute der Schwester, neunzehn Jahre alt,
groß, stark und schön. In schweren, fest zusammengeflochtenen Flechten
krönte das lichte Haar ihr ungemein sanftes, blühendes Gesicht, aus dem
ein reiner, gütiger Blick strahlte, der durch einen leisen Ausdruck von
Traurigkeit und schon versunkenem Schmerz noch weicher und gütiger
erschien. Über ihrer Gestalt, der blühend gewölbten Brust und den
starken Hüften lagen in innigster Vermischung die reinste Keuschheit
mit der tiefsten Mütterlichkeit ausgebreitet. Keuschheit und
Mütterlichkeit waren das Geschick ihres Lebens. Denn unberührt von
Liebe war noch ihr starkes, liebefähiges Herz gewesen, ohne Verlangen
noch ihr reiner Körper, als sie durch die furchtbarste Gewalt einer
Umarmung Mutter geworden war. Wenn sie jetzt das Köpfchen ihres Kindes
an ihrer reich quellenden Brust sah, lächelte sie wohl vor Glück. Doch
lange Wochen hindurch, in der Nacht vom Schlaf losgerissen, am Tage von
der Arbeit entflohen, mußte sie sich das Antlitz ihres Kindes vor die
zerstörte Seele halten, um jenen anderen entsetzlichen Anblick zu
verscheuchen, der selbst noch in der Erinnerung ihr Herz in Scham,
Grauen und hilflosem Jammer zu ersticken drohte; die Erinnerung daran,
wie sie, als sie sich ahnungslos im Winkel einer Scheune niedergebeugt
hatte, um ein Bündel weiches Heu in die Arme zu raffen, wie sie da
plötzlich von eisernen Griffen gepackt und zu Boden geschleudert worden
war, ihr zum Schreien aufgerissener Mund von einer würgenden Faust
verschlossen wurde, wie harte Knie ihren Leib unwiderstehlich an den
Boden schmiedeten, und vor ihren Augen das ihr unbegreiflich gerötete,
ihr unbegreiflich erregte, gierige Antlitz eines Mannes stand, der mit
der rechten Hand seinen furchtbaren Leib entblößte. Lieber noch hatte
sie die Augen geschlossen, lieber noch Schmerzen und Wunden ertragen,
die rätselhaft ihr Leib empfing, als diesen Anblick. Verloren in
Entsetzen, in Verzweiflung und Schmerz hatte sie damals noch lange
gelegen, als der Mann sie schon verlassen hatte. Erst vor neuen
Schritten in neue Schrecken gejagt, sprang sie auf und floh.
    Die Herrin, der damals das verstörte Wesen ihrer liebsten Magd
bald auffiel, hatte auch ihren Schmerz erfahren. Der Mann, ein
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