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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind
Autoren: Rahel Sanzara
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ihn.
    »Komm!« sagte die Mutter, »komm, es ist der Vater.«
    Der Mann ließ ihre Hand los und trat zu dem Kind. »Gib die
Hand«, befahl er und streckte die seine entgegen.
    Das Kind ergriff langsam die Hand. Sie war groß und hart, mit
roten Haaren bewachsen. Das Kind senkte den Blick der großen Augen
nieder, es errötete, sein Mund öffnete sich, und plötzlich hackte sein
Kopf nieder, die Zähne schlugen fest und tief in das harte Fleisch der
Hand ein. Der Mann brüllte auf mit dröhnendem Laut, er wollte die Hand
fortreißen, doch in weitem Bogen schwebte das Kind, festgebissen, mit.
    »Du Aas!« schrie der Vater, ergriff das Kind mit der noch
freien Hand, riß sich endlich los von seinem Biß und schleuderte es mit
solcher Gewalt gegen die Wand, daß es mit krachendem Schlag niederfiel
und wimmernd bewußtlos liegenblieb. Die Mutter stürzte zu ihm, bettete
es auf ihren Schoß.
    Der Mann ging. Die verwundete Hand, die lange tropfend
blutete, bedeckte er mit der gesunden. Er preßte die grauen Lippen
seines riesigen Mundes aufeinander, in Gedanken sprach er, ohne sie zu
bewegen: »Das ist einmal ein verfluchtes Aas!« Doch in seinem wüsten
Herzen fühlte er über Zorn und Wut hinweg den Stachel eines nie
gefühlten Schmerzes. Er wanderte zurück in die Stadt, aus der er
gekommen war, nie wollte er Mutter und Kind wiedersehen. Doch es
blieben ihm zur Erinnerung die kleinen, perlenförmigen Narben in seiner
harten Hand und der Biß des Schmerzes in seinem Herzen. Und von Zeit zu
Zeit in den künftigen Jahren, in den Stunden schweren Rausches, pflegte
er zu sagen: »Ich habe einen Sohn, das ist ein verfluchtes Aas!« Und
einmal fiel eine Träne, still aus den kleinen Augen tretend und fast
unsichtbar über das fahle, riesige Gesicht rinnend, nieder auf seine
Hand. Er kümmerte sich nicht mehr um das Kind, doch vergaß er es nicht
und zählte die Jahre seines Lebens von ferne mit.
    Fritz und die Mutter blieben nun in Frieden zurück auf dem Gute, ihrer
Heimat
    Nach dem furchtbaren, geschleuderten Sturz an die Wand lag das
Kind zwei Tage und zwei Nächte krank. Es schien zu fiebern, bewußtlos
lag es in Träumen. Mit gefalteten Händen, die Seele in flehendem Gebet
erhoben, wachte die Mutter bei ihm. Denn im Fieber, im Schlaf, war das
Kind furchtbar verändert. Über das sanfte, engelgleich gebildete
Gesicht fluteten, wie aus trüber Tiefe des kindlichen Blutes, der
kindlichen Seele aufgerührt, Wellen von schwarzer Röte, weiteten es
aus, verzerrten den Mund, gruben Furchen in die Wangen, rafften die
Stirn in tückische Falten, stießen die Augen unter den geschlossenen
Lidern zu rollenden, unsichtbaren Blicken hin und her, emporgezaubert
von böser Kraft stieg eine teuflische Maske von drohender Wildheit auf
und breitete sich in höhnischem Sieg über die Züge des Kindergesichts
aus. Seine kleinen Zähne knirschten, fest ineinandergeschlagen, die
kleinen, kräftigen Hände öffneten und ballten sich, die Nägel schlugen
tief ins eigene Fleisch, dann wieder tat sich der Mund auf, lautloses
Lachen, mit fauchendem Atem ausgestoßen, erschütterte völlig den
kleinen Körper.
    Emma, die Mutter, fürchtete sich vor dem eigenen Kind. Sie
floh von seinem Lager, und nur, um ihn vor den Blicken anderer zu
verbergen, kehrte sie zu ihm zurück, versuchte ihn zu erwecken, indem
sie nasse Tücher um seinen glühenden, rasenden Leib schlug. Sie trug
ihn am Abend, als die anderen Knaben zum Schlafengehen in die Stube
kamen, wie einen Toten in ein Leinen verhüllt, in eine leere Kammer im
Gesindehaus, wo sie ihm ein Lager aus Heu bereitete. Sie wagte
niemanden um Hilfe zu bitten, damit niemand ihr furchtbar verändertes
Kind erblicke. Sie betete für es.
    In der zweiten Nacht, in der sie bei ihm wachte, schlief sie
gegen Morgen ein, die Hand vor die Augen gepreßt, um nur einmal dem
Anblick zu entfliehen, und am Morgen beim Erwachen fand sie zu ihrer
unbeschreiblichen Freude das Kind wie immer, still schlafend, das
weiße, sanfte Gesichtchen zur Seite geneigt, geglättet die kindlichen
Züge, die kleine Brust zart bewegt von leise seufzenden Atemzügen, die
kräftigen Kinderhände lagen gelöst in rührender Unschuld auf dem Tuch,
das sie als Decke über ihn gebreitet hatte. Sie rührte ihn an, und er
schlug die Augen auf, das reine, klare Widerspiel der ihren, und
lächelte sie an. Sie lief und brachte ihm Milch. Er trank sie und
dankte ihr mit seiner schönen weichen
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