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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind
Autoren: Rahel Sanzara
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den stattlichen Gebäuden des Gutes, lag wie ein Wahrzeichen ein großer
Teich, sanft eingesenkt in ein kleines Wiesental, mit einer hellen, im
Wind leicht sich kräuselnden Wasserfläche und weit im Rund
geschwungenen Ufern, die dicht bestanden waren von Weiden, in deren
Gebüsch im Frühling Nachtigallen sich lockten und Frösche knarrten,
während an den Sommertagen die Enten mit ihren Jungen auf der sanft
bewegten Wasserfläche schwammen und tauchten. Hier war der
Lieblingsaufenthalt der Kinder, die an seinen Ufern spielten und
zusahen, wenn die Enten gefüttert wurden, die Stätte der fröhlichen
Zusammenkunft der Erwachsenen an den sommerlichen Abenden und den
Nachmittagen des Sonntags und das heimliche Versteck der Liebenden.
    Das Gehöft nun selbst erhob sich in der Ebene der riesigen
Felder ungefähr hundert Meter weit vom Teich entfernt, mit seinem
stattlichen Wohnhaus, vor dessen Vorderfront der große, mit
Quadersteinen sauber gepflasterte Hof lag, mit einem Brunnen in der
Mitte, während es mit seiner Rückenfront in einen ebenfalls großen
Garten blickte, dessen schwere schwarze Erde mit Gemüsen und
Beerensträuchern aller Art bepflanzt war, und der wiederum umgrenzt
wurde von einer Hecke wilder Rosen, zwischen denen große, reichlaubige
Holunder- und Nußbäume aufragten. Zwischen den Hecken eingebaut lagen
die Bienenkörbe, und in einer Ecke stand eine schöngezimmerte Laube,
von Blattwerk umrankt. Rechts und links des Wohnhauses standen in
reichlicher Zahl die Gebäude der Ställe, des Gesindehauses, der
Scheunen und Schuppen, alle gut gefügt und erhalten. Ein nicht allzu
breiter Weg mit Obstbäumen auf beiden Seiten führte vom Hofe durch die
Felder, dann ein Stück die Wiesen entlang, dann durch einen Tannenwald
(der mitsamt dem Jagdbestand, der sich in ihm befand, der Pacht
zugehörte und das Gehöft auf eine schöne natürliche Weise nach dieser
Seite abgrenzte) auf die große Landstraße nach S., dem Marktflecken.
Das Gut lag also abgeschlossen, ein Dorf, eine Welt für sich. Um nach
S. zur Kirche, Schule oder zum Markt zu kommen, waren es zu Fuß drei
Stunden Weges. Zweimal in der Woche wurden also in dem großen,
selbstgebauten Leiterwagen, bespannt mit den kräftigen, schön
gestriegelten Pferden, die man schon von weitem als die Treuener
erkannte, die Milchprodukte, die Eier, das Geflügel und Gemüse zum
Markt oder zur Poststation zum Versand gebracht.
    Mit zwei Wagen aber, sauber gewaschen und geputzt, über die an
Regentagen schützende Planen aufgezogen und die im Winter bei Schnee
auf Schlittenkufen gesetzt wurden, fuhr man, von schön aufgezäumten
Pferden gezogen, dicht aneinandergedrängt auf den die Wagenwände
entlang aufgestellten Bänken, an jedem Sonntag von Treuen nach S. zur
Kirche. Abwechselnd miteinander fuhr so das ganze Gesinde zum
Gottesdienst und zurück; es waren heitere Fahrten, und keiner versäumte
sie.
    Vorauf rollte der Herrschaftswagen, eine Kutsche mit vier
Sitzen, gefedert und mit einem zusammenfaltbaren Lederdach überdeckt,
bespannt mit zwei goldbraunen Füchsen, den schönsten Pferden vom Hof.
Diese Fahrten glichen einem kleinen festlichen Zug, und sie erregten
Neid und auch Spott, von denen Christian B.s bescheidenes
Leben sonst verschont war. Doch Christian B. liebte diese
Fahrten mit ihrer kleinen Pracht, und sie erfüllten ihn mit Stolz. Er
arbeitete für den fremden Besitz, als ob es der seine wäre, denn er
arbeitete nicht um des Gewinnes willen, den er, da er trotzdem sich
bot, selbst in bestimmten Grenzen hielt; er wollte nicht mehr gewinnen
als ein Vermögen für seine Kinder, das ihnen einmal eine gleiche
Existenz ermöglichen sollte wie die seine, und den Notgroschen für
Alter und Krankheit. Was ihn erfreute und trieb, war der Wunsch, zu
schaffen, für andere zu sorgen, ihnen Vorsehung, Halt und Heimat zu
sein, sie leben zu lassen durch ihn. Mit einer zeugenden Kraft und
einem väterlichen Gefühl umfaßte er die Welt und sein eigenes Dasein.
Und alle Erfüllung sah er sich gegeben, wenn er die Seinen in heiterer
Fahrt, gut genährt und sonntäglich gekleidet, zum Gottesdienst führte.
Seine Andacht ging nicht mit der allgemeinen, in der die Worte der
Schrift und die Predigten des Pfarrers vernommen wurden, sondern Gott
schien sich ihm näher zu offenbaren, er glaubte Gottes Willen, sein
Angesicht, ahnend zu erkennen, wenn er nach seinen gerechten und guten
Worten und Gesetzen
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