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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit
Autoren: Tom Finnek
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    Henry konnte sich nicht erinnern, jemals mit einem solchen Kater aufgewacht zu sein. Vor allem hatte er keine Ahnung, wie es zu diesem Kater gekommen war. Die Ereignisse der letzten Nacht waren wie weggeblasen, und auch an den vorhergehenden Abend hatte er nur undeutliche und zudem sehr unschöne Erinnerungen. In seinem Kopf hämmerte es, als würde die Schädeldecke von innen mit einem Schlagbohrer bearbeitet, gleichzeitig fühlte es sich an, als steckten seine Schläfen in einer Schraubzwinge, und seine Augen schmerzten, als würden sie von hinten aus den Höhlen gedrückt werden. Henrys Zunge klebte am Gaumen und war rau wie Schmirgelpapier, der Geschmack in seinem Mund war ekelerregend, und in seinem Magen rumorte es, als müsste er sich jeden Augenblick übergeben. Wenn er seiner Nase trauen durfte, hatte er das längst getan. Es roch säuerlich und modrig, wie in einem Stall oder einer öffentlichen Toilette. Er lag rücklings auf einem feuchten Steinboden, der mit muffigem Stroh oder Heu ausgelegt war, und durch zwei schmale Schlitze in etwa sechs Fuß * Höhe drang schummriges Licht in den Raum, ohne wirklich etwas zu erhellen.
    Henry hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Oder wie er hierhergekommen war. Dem Geruch, der Feuchtigkeit und der Dunkelheit nach zu urteilen, war dies ein Keller oder eine unterirdische Garage, und an dem Schnarchen und leisen Gurgeln, das er um sich herum vernahm, erkannte er, dass er die Nacht nicht allein in diesem Loch verbracht hatte. Henry wollte sich erheben, doch seine Muskeln und Sehnen folgten den Befehlen des Gehirns nicht. Und jede noch so kleine Bewegung seines Oberkörpers wurde prompt mit Explosionen in seinem Schädel bestraft. Er wollte auf seine Armbanduhr schauen, doch als er mit letzter Kraft den Arm hob, bemerkte er, dass er seine Uhr nicht mehr trug. Dafür stellte er erstaunt fest, dass er immer noch sein Theaterkostüm anhatte.
    Das Theater! Ja, daran erinnerte er sich. Und an das, was er nach dem letzten Vorhang hinter der Bühne hatte sehen müssen. Einen »Inzest« der besonderen und abscheulichen Art!
    Es war sein erster professioneller Auftritt als Schauspieler gewesen. Sah man einmal von den lausigen Aufführungen des Schultheaters und den selbst konzipierten Stücken ab, bei denen er und Sarah während ihrer Zeit an der Schauspielschule mitgewirkt hatten. Die Bettleroper jedoch war echtes und ernstzunehmendes Theater und ein Klassiker obendrein, auf einer richtigen Bühne, vor zahlendem Publikum, das nicht nur aus wohlmeinenden Freunden und Familienmitgliedern bestand. Zwar war das Rosemary Lane in der Royal Mint Street, unweit des Towers, nur ein unbedeutendes Kellertheater und eine Art Ableger des gleichnamigen Restaurants im Erdgeschoss, doch Henry bekam eine Gage, die diesen Namen annähernd verdiente, und spielte zudem die Hauptrolle des Gaunerhauptmanns Macheath. Und Sarah, die ihm diese Rolle verschafft hatte, war bei der Premiere als seine Geliebte Polly Peachum gefeiert worden.
    Zumindest auf der Bühne war sie seine Geliebte gewesen. Denn hinter der Bühne, nach Ende der Vorstellung, hatte sie es vorgezogen, mit ihrem Bühnen-Vater Mr. Peachum, dem Fernsehseriendarsteller Sean Leigh, herumzuknutschen und sich vom ihm befingern zu lassen. Und Henry, noch ganz benommen von seinem Erfolg in der Rolle des räuberischen Frauenhelden, war Zeuge dieses unwürdigen Schauspiels geworden und hatte die anschließende Premierenfeier dazu genutzt, sich und seinen Liebeskummer mit Gin zu begießen. Alles Weitere war nur noch ein schwarzes Loch in seiner Erinnerung.
    Und in einem ebenso finsteren Loch war er nun aufgewacht.
    Ein Tritt gegen seine Schulter riss Henry aus seinen Gedanken. Er zuckte zusammen und hob den Kopf. Und im nächsten Augenblick trat ihm jemand mit dem Stiefel auf die Hand.
    »Ah, verdammt!«, schrie Henry und bereute es sofort, weil der Schrei in seinem Kopf einen noch viel größeren Schmerz nach sich zog. »Pass doch auf, wo du hintrittst!«
    »Was liegst ’n auch mitten im Raum?«, knurrte eine raue Männerstimme. »Scher dich an die Wand, Kerl! Man kann sich ja die Haxen brechen, Herrgott, Sakrament.« Der Mann schien sehr alt zu sein und sprach mit einem seltsam übertriebenen Cockney-Akzent, er nuschelte und verschluckte jede zweite Silbe, wobei seine Wortwahl irgendwie antiquiert erschien. »Herrgott, Sakrament!« Diesen Ausdruck hatte Henry vor einer Ewigkeit zuletzt gehört. Der Mann zog den Rotz hoch, spuckte zu Boden,
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