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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit
Autoren: Tom Finnek
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Museum of London gesehen hatte. Zwei mächtige, rechteckige Türme mit Zinnen an der Brüstung und gemauerten Nischen für Statuen oder Reliefs flankierten einen gedrungenen und schmucklosen Rundbogen, der die Hauptstraße von Aldgate überspannte und zwei kleineren Fuhrwerken gleichzeitig Durchlass bot. Einen weiteren Durchgang für Fußgänger gab es im nördlichen der beiden Türme, und durch diesen schritt Poll nun, ohne sich noch einmal nach den beiden Männern umzuschauen. Henry wappnete sich innerlich für die Auflösung des Gags, die ganz sicher auf der anderen Seite des Tores auf ihn wartete.
    Einen einzelnen Straßenzug, ein paar hölzerne und mit Mörtel verputzte Hausfassaden, die vier Türme des Towers oder eine alte römische Stadtmauer nachzubauen war auf einem Filmgelände sicherlich ohne Weiteres möglich. Aber eine ganze Stadt? Undenkbar! Und deshalb würde der Spuk gleich vorbei sein.
    Als Henry jedoch das Tor durchschritten hatte, bot sich ihm auf der Westseite ein Anblick, der ihm den Atem nahm und ihn einen leisen Schrei ausstoßen ließ. Das Grinsen auf seinen Lippen wich einem entsetzten Gesichtsausdruck, und er traute seinen Augen nicht. Weil das Aldgate höher gelegen war und das Gelände vor allem nach Süden hin, in Richtung Themse, merklich abfiel, lag die City von London gewissermaßen zu seinen Füßen. Vor ihm entfaltete sich ein Gewimmel von kleinen Gassen, niedrigen und gedrängt stehenden Häusern und zahlreichen Kirchtürmen, die die Silhouette der Stadt dominierten. Keine Hochhäuser, keine Wolkenkratzer, kein riesiger Swiss-Re-Tower, dessen seltsame Gurkenform ihm den Spottnamen »The Gherkin« eingebracht hatte. Keine Busse, keine Autos, kein Asphalt, keine Baukräne. Dafür eine Unzahl von Menschen, Tieren und altmodischen Gefährten auf den mit Kopfstein gepflasterten Straßen.
    Wie benommen folgte Henry den beiden anderen die Leadenhall Street entlang in Richtung Westen, und je weiter sie gingen, desto unbegreiflicher war ihm, was er zu sehen bekam. Händler verkauften ihre Waren direkt vom Karren, fein gekleidete Bürger inspizierten die Auslagen der Geschäfte, Schilder aus Holz oder Messing verkündeten, welchem Gewerbe die Bewohner der Häuser nachgingen. Bettler lungerten herum und streckten ihre mit Ekzemen übersäten Hände gen Himmel, es wimmelte von Pferdekutschen, Sänften und schwer bepackten Dienstleuten, die eifrig wie Ameisen umherirrten.
    Auf der rechten Seite erkannte er die alte Kirche von St. Katherine Cree mit ihrem niedlichen Ecktürmchen. Hier hatte seine Schwester Zoe vor einigen Jahren ihren Mann James geheiratet, einen langweiligen Investmentbanker, der unbedingt im Londoner Finanzdistrikt hatte heiraten wollen. Doch während heutzutage die Kirche von riesigen Bürohäusern, Banken und Versicherungsgebäuden regelrecht umzingelt war und erdrückt wurde, bot sich Henry nun ein völlig anderer Anblick. Die Kirche stand auf einem alten Friedhof und überragte die umstehenden, meist dreistöckigen Fachwerkhäuser, deren dunkel angelaufene und schiefe Fassaden aus der Tudor-Zeit zu stammen schienen. Auf der gegenüberliegenden Seite hätte eigentlich der viktorianische Leadenhall Market mit seinen reich verzierten Gängen und imposanten Hallen stehen müssen, doch stattdessen sah Henry nur ein verfallenes Bauwerk aus Backstein, dessen Holzdach löchrig war und aus dem es nach verwestem Fleisch und verrottendem Gemüse stank.
    »Scheiße!«, murmelte Henry und hatte Angst, den Verstand zu verlieren. »Das kann doch alles nicht wahr sein.«
    »Stinkt fürchterlich, nicht wahr?«, meinte Blueskin und deutete auf die Markthalle. »Wird Zeit, dass die schäbige Bude endlich abgerissen wird.«
    Sie hatten inzwischen das Ende der Leadenhall Street erreicht, wo die Straße in den Cornhill überging und sich der Anblick der Stadt fast schlagartig änderte. Das schwarz-weiße Tudor-Fachwerk und die windschiefen Holzkonstruktionen waren weiter westlich nicht mehr zu sehen, dafür waren die meist vierstöckigen Häuser aus rotbraunem Backstein errichtet. Schmucklos gehaltene Reihenhäuser mit schmaler Front, ohne Erker oder Vorsprünge, alle mit der gleichen Traufenhöhe und sehr ähnlich im Aussehen.
    Zur Linken führte eine steile Straße hinab zum Fluss, oder genauer gesagt, zur London Bridge. Unweit der Brücke ragte die steinerne Säule The Monument in den Himmel, die an den Großen Brand von 1666 erinnern sollte. Und plötzlich begriff Henry, was der seltsame
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