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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit
Autoren: Tom Finnek
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befreite Jack Sheppard würde Henry als Schwindler und Hochstapler entlarven und Blueskin ihn kurzerhand ins Jenseits befördern. Ein Menschenleben galt bekanntlich wenig in dieser Zeit, und das Leben eines vermeintlichen Spitzels rein gar nichts.
    Doch wohin sollte Henry gehen? An wen sollte er sich wenden? Wie wollte er sich an diesem Ort und in dieser sonderbaren Zeit zurechtfinden? Und vor allem: Wie würde er es schaffen, in die Gegenwart zurückzukehren? Oder besser gesagt, in die Zukunft?
    Es war offensichtlich kein Zufall, dass es ihn ausgerechnet hierher und in diese finstere Gesellschaft verschlagen hatte. Der fiktive Gaunerhauptmann Macheath hatte ihn in das Jahr 1724 katapultiert, also musste der reale Gauner Sheppard, der den Macheath erst ermöglicht hatte, ihn wieder zurückbefördern. Der Schlüssel lag in der Bettleroper ! Das klang nicht sehr logisch oder vernünftig, aber was hatte das alles schon mit Vernunft zu tun? Nichts! Es war der reine Irrsinn. Und vielleicht lag ja genau darin die Lösung des Rätsels: Henry hatte den Verstand verloren. Alles nur krankhafte Einbildung und Wahn? Womöglich lag er just in diesem Augenblick in einer Nervenklinik und wurde wegen einer akuten Schizophrenie behandelt. Halluzinationen infolge irgendeiner Demenzkrankheit. Oder war er etwa auf einem Drogentrip hängen geblieben? In seinem Kopf spielte sich ein absurder Film ab. Er sah, hörte und fühlte etwas völlig Irreales, weil es in seinem Hirn einen Kurzschluss oder Defekt gegeben hatte. Es war zum Verrücktwerden!
    Um herauszufinden, was das alles zu bedeuten hatte, musste er den eingeschlagenen Weg weitergehen. Die Flucht zu ergreifen würde sein Schicksal nur besiegeln. Wenn er jemals wieder in »seine Welt« zurückkehren wollte, blieb ihm gar nichts anderes übrig, als sich seinen neuen Bekannten anzuvertrauen und auszuliefern. Er hatte keine andere Wahl!
    »Da sind wir«, sagte Poll, deutete auf das steinerne und mit einem schweren Fallgitter versehene Tor, das die Newgate Street wie ein Nadelöhr blockierte, und wandte sich an Jenny. »Hättest dir ruhig was Hübscheres anziehen können. Wie sollen die Kerle riemig werden, wenn du aussiehst wie ein Bauerntrampel?«
    »Was hätte ich sonst anziehen sollen? Etwa mein Schwangeren-Kostüm?«, meinte Jenny achselzuckend. »Für die Wärter wird’s allemal reichen. Riemig sind die ohnehin den ganzen Tag.« Dennoch nahm sie das Brusttuch aus dem Ausschnitt, schob ihre Brüste nach oben, bis die Ansätze der Brustwarzen zu sehen waren, und fragte: »Besser so?«
    »Wurde aber auch Zeit!«, hörte Henry plötzlich eine tiefe und heisere Frauenstimme hinter sich. »Ich steh mir hier die Beine in den Bauch, und ihr habt nichts Besseres zu tun, als an euren Titten herumzuspielen.«
    Als Henry sich umwandte, sah er eine groß gewachsene und stämmige Frau, die sich vor Jenny und Poll aufbaute und die Hände in die Seiten stemmte. Das war dann wohl Edgworth Bess. Ihre Kleidung ähnelte der von Poll und lenkte die Blicke unwillkürlich auf ihre üppigen, hoch geschnürten Brüste, allerdings war Bess nicht ganz so aufdringlich geschminkt und mit Schönheitspflästerchen beklebt, und auch der schlichte Hut auf ihrem Kopf stahl ihrem Haar nicht die Schau, sondern brachte die dunklen Locken erst richtig zur Geltung. Trotz ihrer fülligen Statur und des rundlichen Gesichts war Bess eine ausgesprochen schöne Frau, die es nicht nötig hatte, durch weißen Puder, ausladende Federn oder bunte Perlen auf sich aufmerksam zu machen. Henry fühlte sich an Filmdiven der Vierziger- und Fünfzigerjahre erinnert. Obwohl sie noch keine zwanzig Jahre alt sein konnte, hatte sie eine Reibeisenstimme wie eine verlebte Matrone, die jahrzehntelang den Whisky in sich hineingeschüttet hatte. Ein seltsamer Widerspruch, der Henrys Interesse erst recht weckte.
    »Wo habt ihr so lange gesteckt?«, wollte Bess wissen, wobei sie sich nur an Poll und Jenny wandte und für die anwesenden Männer keinen Blick übrighatte.
    »Krieg dich wieder ein, Bess!«, maulte Jenny und zog eine Grimasse.
    »Wir sind ja da«, meinte Poll. »Mach hier nicht so ’nen Wirbel.«
    »Der Exekutionsbefehl ist heute Morgen aus Windsor gekommen«, sagte Bess und schob Poll kurzerhand beiseite. »Nächsten Freitag soll Jack an den Galgen.«
    »Dazu wird’s nicht kommen«, antwortete Poll. »Dafür werden wir schon sorgen.«
    »Dann los!«, befahl Bess und deutete auf eine Lederflasche in ihrer Hand. »Das wird uns die
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