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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind
Autoren: Rahel Sanzara
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stand im
Hintergrund, hohe Regale mit blitzenden Töpfen und Geschirren
verkleideten die rückwärtige Wand, während vor den Fenstern der
Hofseite, die die Vorderseite des Hauses bildete, die viele Meter
lange, weißgescheuerte Tafel stand, umgeben von Bänken und schweren,
hölzernen Stühlen, an der alle, Herr und Gesinde, die Mahlzeiten
gemeinsam einnahmen. Eine schmale Tür im Hintergrund führte über einen
engen, steinernen Gang in die Vorratskammer, in der die Tröge mit Mehl
standen, abgeteilt in Futtermehl, Brotmehl und feines Mehl, wo das
geräucherte Fleisch, von weißen Leinensäckchen umhüllt, an der Decke
hing und auf Stroh gebreitet Eier und Früchte lagen. Eine Falltür in
der Mitte des Bodens führte über eine Treppe in den unter ihm liegenden
Milchkeller. Da standen die Kübel mit frischer Milch, gegorener Milch,
abgezogener Milch und voll süßer und saurer Sahne, in irdenen Schüsseln
lagerten die Massen der Butter. Es war alles auf das beste
eingerichtet. Die junge Frau sah es wohl, und ohne Zögern ergriff sie
davon Besitz, als wäre es ein ihr dargebrachtes Geschenk. Von der
Wirtschafterin forderte sie die Schlüssel und das Wirtschaftsbuch. Sie
maß mit ihr die Rationen ab, die für den nächsten Morgen zum Füttern
des Viehs und zum Bereiten des Frühstücks gebraucht wurden. Sie
überwachte zwei junge Mägde, die das Geschirr des Festmahles reinigten,
und merkte sich, wieviel es war und an welche Plätze es gestellt wurde.
Nichts erschien ihr fremd oder neu. Ein Teil des Gesindes umlagerte
noch im Schein der Lampe, die von der Decke herniederhing, die Tafel in
festlicher Trägheit. Die Frauen hatten die Hände in den Schoß gelegt
und hielten sie dort unbeweglich still, die Männer stützten die Arme
schwer auf den Tisch, und alle sahen mit ernsten Blicken auf die junge
Frau. Sie ging lächelnd an ihnen vorüber, verließ die Küche und trat in
das Wohnzimmer ein, um auf den Mann zu warten, der wegen des windigen
Wetters die Ställe selbst mit schloß. Das Wohnzimmer lag, durch den
Hausflur getrennt, der Küche gegenüber. Es enthielt Christians Möbel,
seinen Schrank mit Büchern, seinen hohen Schreibsekretär aus poliertem
Eichenholz, Sofa, Tisch und Stühle. Es war das Zimmer, in dem er
gearbeitet und seine einsamen Feierstunden gehalten hatte. Von der
Decke herab hing eine brennende Lampe, mit weißem, sanft strahlendem
Schirm, welche die purpurrote Decke des Tisches unter ihr flammend
erleuchtete. Eine Uhr tickte mit weitausschwingendem Pendel an der
Wand. Der Duft des Festes schwebte in der Luft.
    Die junge Frau setzte sich auf das Sofa, um zu warten. Ihr
schwarzes Haar glänzte tief im Schein der Lampe, in ihrem weißen
Gesicht leuchteten ihre lächelnd geöffneten Lippen, ihre leicht
ineinandergelegten, vollen Hände ruhten in ihrem Schoß. Sie hörte den
Frühlingswind in wilden Sprüngen um das Haus wehen, in Stößen den
schweren Frühlingsregen an die Fenster klirren, und dazwischen hörte
sie, weit von fern, Schritte bei den Ställen. Sie hörte das Gesinde die
Küche nach und nach verlassen und über den Hof in das Gesindehaus
gehen, die Uhr ticken an der Wand und dann endlich hochklopfenden
Herzens zwischen Regen und Wind die Schritte des Mannes, der zum Hause
kam. Sie hörte ihn in die Küche gehen. Sie lächelte und wartete.
    Endlich trat er ein. Er blieb an der Tür stehen und sah sie
an. Weiß leuchtete ihr Gesicht im milden Schein der Lampe, aus ihrem
zärtlichen Blick aber umwehte ihn die weite Finsternis ihrer Augen, die
Finsternis, die er fürchtete. Endlich aber sah er auch ihr Lächeln. Er
rief sie bei ihrem Namen, zum erstenmal.
    »Martha«, sagte er leise.
    »Christian«, erwiderte sie.
    »Ich wünsche dir Gutes zum Willkommen.«
    »Wir werden glücklich sein«, sagte sie und stand auf.
    Er trat zu ihr und ergriff ihre Hand. Die Frau nahm sie, hob
sie empor und preßte sie fest gegen ihre junge Brust. Seinem zu ihr
niedergesenkten Blick lächelte sie entgegen, mit der freien Hand zog
sie die Lampe zu sich und verlöschte sie. Im Dunkeln gingen sie Hand in
Hand aus dem Zimmer, die Treppe empor, und traten in das Schlafzimmer
ein. Im Dunkeln entkleideten sie sich, verhüllt und unsichtbar einander
durch die Finsternis einer sternenlosen Nacht.
    Der Mann stand am Fenster. Im aufklopfenden Herzen fühlte er
die Finsternis der Kindheit, eine tiefere, schwärzere Finsternis um ihn
allein als in der ganzen
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