Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind
Autoren: Rahel Sanzara
Vom Netzwerk:
er sang ihn mit seiner
sanften Stimme in den Schlaf, er bettete ihn in seinem Gelaß auf sein
Bett, wusch und trocknete die durchnäßten Leinen. Alle spotteten
darüber, sogar die Mutter des Kindes. Aber er hörte es nicht.
    Als die Magd ein paar Tage krank war, verrichtete er ihre
Arbeit und kochte auch für die anderen. Seit dieser Zeit übernahm er
immer die Arbeiten in der Küche und in dem Haus, und zuletzt arbeitete
er wie eine Frau. Er wusch im Winter die Fußböden auf und kümmerte sich
um die Milchwirtschaft, dabei umspielte ihn täglich das heranwachsende
Kind. Als das Kind dann zur Schule kam und nicht schon morgens bei ihm
war, war er unglücklich und spähte mittags nach ihm aus. Als das Kind
dann kam, ihm seine Schulbücher zeigte und ihm von der Schule erzählte,
wurde er plötzlich böse und schickte es fort. Der Gedanke entsetzte und
verstörte ihn, daß das Kind zu anderen Menschen ging, andere Menschen
zu ihm sprachen und es belehrten. Er rief es nicht mehr zu sich, wenn
es nachmittags auf den Hof kam, und wich ihm aus, wenn es auf ihn
zulief. In seinen sanften, kindlich blickenden Augen sah der wachsame
Herr ein böses Feuer. Er verbot der Tagelöhnerin, das Kind weiterhin
mitzubringen, und der Knecht fragte auch nicht mehr nach ihm, als es
nie mehr kam.
    Seine letzte Leidenschaft war nun nur noch die Arbeit, und
zwar die leichteren Hantierungen in Haus und Stall. Er saß gern in der
Küche am Herd und überwachte das Essen, er half bei der Wäsche und
deckte den Tisch. Und in diesem kalten, freud- und zwecklosen Haushalt
war er es, der Wärme des Lebens und Freude des Daseins noch
ausstrahlte. Er war sanft und lächelte viel. Er erinnerte daran, daß zu
den Festtagen Kuchen gebacken wurde, er wählte das Geflügel aus und
lobte die Braten, die die Magd aus dem Dorf mitbrachte. Er holte
behutsam am Sonntag die porzellanenen Teller aus dem Schrank, von
denen, anstatt von den zinnernen an den Wochentagen, gegessen wurde. Er
genoß kindlich und dankbar, was für ihn noch an des Lebens Tisch
bereitet war.
    In Sanftmut und Heiterkeit versetzte ihn selbst die Schwäche
seiner beginnenden Krankheit, deren Keim er unbemerkt wohl in den
kalten Nächten seiner Gefängniszelle empfangen hatte und die ihn
langsam während zweier Jahre dem Ende zutrug. Wenn er bei seiner
ohnedies nur noch leichten Arbeit plötzlich am ganzen Körper Schweiß
ausbrechen fühlte, so war es schön, sich in der zitternden Schwäche,
die ihn erfüllte, am Herd niederzulassen, am hellen Tage, ganz gleich,
zu welchen Stunden, und dort allein, ruhig zu sitzen und das Feuer zu
überwachen. Alles um ihn her war in Ordnung. Der leise Husten, der
abends, wenn er sein Gelaß aufsuchte, ihn überfiel, stieg wohlig
perlend aus der Tiefe seiner Brust auf, und der leichte Rausch des
Fiebers ließ ihn singen. Doch wieder im Herbst, im November, brach er,
zwei Eimer mit Milch tragend, an der Schwelle des Stalles zusammen, und
blutiger Schaum stand vor seinem Mund. Der Herr und die Magd vermochten
nicht, den schweren Mann aufzunehmen. Der Herr schichtete Heu in seinen
Rücken und unter sein Haupt und schickte die Magd nach einem Tuch, das
Blut fortzuwischen. Nach und nach kam der Knecht wieder zu sich, sie
halfen ihm auf und führten ihn ins Haus. Der Herr befahl der Magd, das
Zimmer der verstorbenen Emma aufzuschließen, das Bett zu richten und
den Ofen zu heizen. Dann führte er den Knecht hinauf und hieß ihn sich
niederlegen. Er ging ins Dorf nach einem Arzt. Als er zurückkam, war
der Knecht schon wieder in der Küche und lächelte ihm entgegen.
    »Es ist schade um die Milch, Herr, aber ich kann nichts
dafür«, sagte er.
    »Du wirst jetzt immer oben schlafen,« sagte der Herr, »drüben
ist es zu kalt. Und der Doktor wird auch kommen.«
    Der Doktor kam und brachte eine Flasche brauner Medizin mit.
Er untersuchte den Knecht und sagte, es werde vorübergehen. Martin
schlief nun im Haus, in der Stube seiner Mutter, die jeden Abend
geheizt wurde, und nahm die Medizin. Sein Husten verging, er arbeitete
wie früher. Der Sommer war schön, heiß und voller Freude für ihn. Er
saß viel am Bache, hatte Kinder um sich und sang. Er erzählte von
»dort«. Er erzählte von dem Geistlichen, der zu ihm gekommen wäre und
sich zu ihm, auf seinen Stuhl gesetzt habe, und dann habe er mit ihm
gesprochen, wie in der Kirche auf der Kanzel. Er habe gesagt, man müsse
immer an Gott denken und seine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher