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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind
Autoren: Rahel Sanzara
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Schweigen der Wortlosen, er betete für die zitternden
Stimmen. Er lenkte den Wagen zur Kirche, er spaltete das Holz für den
Herd, er trug das Wasser zum Kochen herbei. Er wachte über das Vieh, im
Sommer arbeitete er auf den Feldern Tag und Nacht.
    Sein Glück und seine Freude waren lange Zeit die Kinder. Und
das war so gekommen: An dem Tage, als die Söhne mit dem Kinde
fortgefahren waren, hatte ihn eine große Traurigkeit überfallen, stets
hatte er in Sehnsucht des Kindes gedacht. Oft stand er mitten in der
Arbeit still, als warte er auf seinen Ruf, auf sein Kreischen und
Lachen, als warte er darauf, daß es herbeigelaufen käme, sich an seine
Beine schmiege, sein kräftiges, dunkelhäutiges Gesichtchen zu ihm
emporhebe. Am größten war sein Verlangen nach dem Kinde in den
Feierstunden, wenn er allein an dem Bache saß, die fleischigen Hände in
leerem Spiel bewegte und die Worte, die aus seiner einsamen Brust
aufstiegen, unförmlich murmelnd ins Leere sprach, unhörbar selbst dem
eigenen Ohr, denn er sprach nicht zu sich selbst.
    Da fand er eines Abends zwischen den Feldern einen jungen
Igel, wie er es sich gewünscht hatte. Er zog seinen Rock aus, rollte
das Tier, das sich zu einer stachlichen Kugel zusammenzog, vorsichtig
mit seinem Fuß darauf und brachte es in seine Kammer, fütterte es mit
Milch und Fleischbrocken, die er sich von seinem Mittagessen absparte.
Der Igel kam abends, wenn er seine Kammer betrat und einen tiefen,
rollenden Lockruf ausstieß, mit laut tackendem Lauf heran, grunzte
leise und begann die Milch, die er ihm reichte, zu schmatzen. Er ward
völlig zahm. Der Knecht konnte ihn auf den Arm nehmen, ihn zwischen den
Händen umherwerfen, ohne daß er seine Stacheln sträubte. Er war jetzt
das einzige Tier in dem Gelaß, und Martin begann ihn zu lieben. Doch
die Sehnsucht nach dem Kinde verlor er nicht.
    An einem Sonntagmittag im Oktober, nach dem Essen, als die
Sonne mild den kleinen Hügel, den Wiesenstreifen, den sanft fließenden
Bach bestrahlte, ergriff ihn solche Traurigkeit, daß er floh. Aber er
floh langsam, schwer zögernden Schrittes, die Landstraße entlang ins
Dorf, umkreiste scheu die Gruppen spielender Kinder und trat dann ins
Wirtshaus ein, das um diese Stunde leer war. Er hockte breit und dick
hinter einem Tisch, das haarumwallte Haupt und Gesicht zur Brust
gesenkt, und trank still ein Glas Bier nach dem andern. Es war das
zweite Mal in seinem Leben, daß er Bier trank. Eine Erinnerung, dumpf
und undeutlich, meldete sich, etwas in ihm dachte: »Es will ja keiner
was von mir«, und er trank sein Glas gierig aus. Als sich um die
spätere Nachmittagsstunde die Wirtsstube mit Menschen und Lärm füllte,
ließ er den Wirt in seinen Taschen nach Geld suchen, um sich bezahlt zu
machen, dann ging er hinaus. Als er vor die Tür ins Freie trat,
taumelte er und stürzte. Er kämpfte mit seiner Trunkenheit, denn sein
Kopf wurde plötzlich klar, aber es gelang ihm lange nicht, die
Herrschaft über seine schweren, fleischigen Glieder zu erlangen. Er
wandte sich von einer Seite auf die andere, kniete hin, um sich so, auf
die Hände gestützt, besser vom Erdboden erheben zu können. Jedoch ein
aufsteigender Wirbel in seinem Kopf riß ihn um, so daß er, mit der
Stirn schwer aufschlagend, auf dem Leib liegenblieb.
    Eine große Schar von Kindern umstand ihn sofort, johlte und
schrie lachend über das hilflose Gebaren seines dicken Körpers. Die
größeren Kinder warfen mit Steinen nach ihm. Kämpfend zwischen Angst,
Neugier und Grausamkeit, wollten die kleineren das gleiche tun,
näherten sich ihm, Steine in den winzigen Fäusten, wichen jedoch sofort
angstschreiend zurück, wenn er sich regte. Einige Männer und Frauen,
die ihre Jüngsten auf den Armen trugen, sahen lachend zu. Der Knecht,
auf dem Bauche liegend, fühlte die Steinwürfe in seinem Nacken und auf
den Beinen in der Trunkenheit nur wie leichte Schläge von Weidenruten.
Er erhob seinen Kopf und sah, von unten emporblickend, die kleinen
Gestalten der Kinder mit lachend geöffneten Mündern vor sich stehen.
Etwas von der alten, bösen Gier regte sich in ihm. Er kroch auf allen
vieren zur Mauer des Wirtshauses, richtete sich erst in den Knien, dann
stehend auf. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Mauer und sah auf die
Kinder, die lachend ihn umstanden. Sein Haar und Bart waren von Erde
bedeckt. Die Kinder schrien: »Dreckbär! Alter Dreckbär!« und streckten
ihre Zungen
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