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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind
Autoren: Rahel Sanzara
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arbeitete der Herr. Grenzenlose Einsamkeit stets um ihn. Jetzt war
seine hohe, schmale Gestalt gebeugt in den Knien, sein Rücken gekrümmt,
seine Schultern tief herabgedrückt, sein hageres Gesicht, nun nicht
mehr jung inmitten des kummervoll gebleichten Haares, erschien vollends
versteinert. Seine Blicke sahen niemand mehr, die schweren Lider hoben
sich kaum von den Augen.
    An einem Herbstabend, im kalten, feuchten Hauch der Erde, in
der freudlosen, leeren Dämmerung, stand Christian auf dem Acker und
sammelte Kartoffeln ein. Tief zur Erde niedergebeugt, wühlte er die
Früchte aus ihrem todeskühlen Bett. Er füllte einen Sack bis zum Rande,
packte ihn und schwang ihn auf seinen Rücken. Doch mitten im Schwung
versagte seine Kraft, er stürzte in die Knie. Er ächzte leise. Er
dachte plötzlich, wie er zweimal in seinem Leben in die Knie gesunken
war, doch das Leben und die Last des Schicksals waren nicht von ihm
genommen worden.
    Martin, der in der Nähe arbeitete, hörte die ächzenden Laute
des Herrn, das dumpfe Einsinken seiner Knie in die Erde. Er kam suchend
in der Dunkelheit heran. Als er vor dem Herrn stand und sich zu ihm
niederbeugen wollte, sagte der Herr zu ihm: »Ich muß weiterleben,
deinetwegen«, und er erhob sich allein, und beide trugen gemeinsam den
Sack zum Wagen und luden ihn auf.
    Und es erfüllte sich so, wie Christian gesagt hatte. Er, der
im Leben schon Tote, mußte weiterleben und allen denen das Grab
besorgen, für deren Leben er auch gesorgt hatte. Er lebte noch lange,
um dem Mörder Heimat und Arbeit, um ihm ein gerettetes Leben zu
schenken, um nicht den Knecht Martin als eine traurige, hilflose Waise
zurückzulassen. Das hatte er gefühlt, als er auf die Knie gedrückt in
den Ackerfurchen lag und im Dunkeln schwerfällig die Gestalt des
Knechtes sich ihm näherte. Christian war jetzt dreiundsiebzig Jahre
alt. Als er bei der großen Abrechnung des Jahresbeginnes sah, daß die
drei Vermögen, die er für seine zwei Söhne und für den Knecht Martin
angelegt hatte, auf je viertausend Taler gestiegen waren, so daß jeder,
wie er bestimmt hatte, vor äußerster Not geschützt sein konnte, nahm er
zur Erleichterung der Arbeit ein Tagelöhnerpaar auf. Er selbst
arbeitete nicht mehr schwer, obwohl er von früh bis spät auf war.
    Martin, der Knecht, der jetzt achtundvierzig Jahre alt war,
hatte nun wieder Zeit zu singen, Ställe und Käfige zu bauen und für die
Kinder Spielzeuge zu fertigen. Er hatte wieder friedliche Stunden im
Sommer am Bach, wo die Kinder bei ihm saßen, er zu ihnen sprach und von
»dort« erzählte, während die Sonne seinen breiten runden Rücken und
sein lockig behaartes Haupt bestrahlte, die Tiere der Weide ihn
umsprangen. Betrunken war er nie mehr. Er war heiter und glücklich. Mit
den Jahren wurde er bequem, da sein Körper immer schwerer wurde. Zwar
arbeitete er noch mit großer Lust, ja mit der gleichen Leidenschaft,
mit der er als Kind schon gearbeitet hatte, aber er suchte sich Arbeit,
bei der er nicht viel laufen mußte. Er wurde schwerfällig und
unbeholfen in seinen Bewegungen, und der einzige Schmerz, den ihm das
Leben noch zufügte, war der, daß die Kinder, die seine Schwäche bald
bemerkten, ihn neckten und verspotteten. Er konnte ihrem Laufen und
Springen nicht folgen, wenn sie ihn in Gruppen umringten, lockten oder
quälten. Wohl nahmen sie seine Geschenke, mit denen er sie gewinnen
wollte, in Empfang, doch am nächsten Tag schon höhnten sie ihn von
neuem. So blieben ihm nur die Kleinsten, die sich gern auf seine
starken Arme nehmen und von ihm schaukeln ließen; sie hockten jauchzend
auf seinem weichen vollen Nacken, wo er sie reiten ließ, zwar nicht
mehr wie früher, da er in Galoppsprüngen mit ihnen umhersauste, sondern
an einem Ort stehenbleibend, wo er von einem Bein auf das andere sprang.
    Dann gebar die junge Tagelöhnerfrau, die jetzt täglich bei
ihnen arbeitete, ihr erstes Kind. Zur Zeit der Ernte brachte sie es mit
zur Arbeit, legte es, in ein Tuch gehüllt, am Rande der Felder nieder,
um es von Zeit zu Zeit zu säugen. Dieses Kind liebte er innig. Es war
ein Knabe. Er zimmerte heimlich für ihn eine Wiege, er wartete ihn,
wenn die Mutter an anderer Stelle arbeitete, und die Mutter brachte ihm
das Kind oft, froh, für einige Stunden erleichtert zu sein. Der Knecht
lehrte den Knaben die ersten Schritte und die ersten Worte, nicht die
Mutter. Er lehrte ihn, die Händchen zu falten,
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